Eingeschränkt geöffnete Restaurants, monatelanges Warten auf Handwerker, zeitweilig geschlossene Kitas, geschlossene Stationen in Alten- und Pflegeheimen…im Alltagsleben vieler Menschen macht sich der Fachkräftemangel zunehmend und spürbar bemerkbar. Ursachen dafür gibt es einige, u.a. die demographische Entwicklung. Andrea Nahles bezeichnet die demographische Entwicklung sogar als die größte Herausforderung der nächsten Dekade. Die Babyboomer gehen nach und nach in Rente und bis 2035 werden 7 Millionen Arbeitnehmer*innen weniger zur Verfügung stehen als heute. Zwar könnten durch Produktivitätssteigerungen, Digitalisierung, Automatisierung und andere Maßnahmen 3,4 Millionen ersetzt werden, doch um unseren Wohlstand zu halten, bräuchten wir zu den jährlich gut Hunderttausend Zuwanderern aus EU-Ländern, die Freizügigkeit genießen, jährlich 400.000 Zuwanderer aus Nicht-EU-Ländern. Die Ökonomin Monika Schnitzer geht sogar von 1,5 Millionen Zuwanderern im Jahr aus, wenn wir abzüglich der beträchtlichen Abwanderung jedes Jahr 400.000 neue Bürger*innen haben und so die Zahl der Arbeitskräfte halten wollen.
Nun hat die Bundesregierung ein neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz zum 1. März auf den Weg gebracht, von Bundeskanzler Scholz flugs als „das modernste Einwanderungsgesetz der Welt“ tituliert. Vernachlässigt man die Rahmenbedingungen und schaut bloß auf einzelne Paragraphen, mag die Aussage stimmen. So müssen Interessenten ihren Abschluss nicht mehr Modul für Modul gleichwertig mit einem deutschen Zeugnis anerkennen lassen, was in einem zermürbend langen Anerkennungsverfahren meistens Nachprüfungen erforderlich machte und oft Jahre dauerte; zukünftig reicht der staatlich anerkannte Abschluss des jeweiligen Heimatlandes. Des weiteren wird eine Chancenkarte eingeführt, die beinhaltet ein Punktesystem, das das Potenzial (Qualifikationen, Alter, Deutschkenntnisse, etc.) möglicher Immigranten bewertet und so eine gesteuerte Zuwanderung ermöglicht. Auch wird der Nachzug von Familienmitgliedern erleichtert.
Zu den größten Barrieren im Einwanderungsprozess mit Wartezeiten bis zu einem Jahr und länger gehört die Visavergabe. Im Übrigen gibt es in 24 der 55 afrikanischen Staaten keine Vertretung Deutschlands, die überhaupt Visa ausstellen könnte. Einen weiteren bürokratischen Flaschenhals stellen die Ausländerbehörden dar, die eher abschrecken als dass sie Service bieten und die dramatisch unterbesetzt sind, weil es auch in Verwaltungen Personalknappheit gibt und weil in der Ausländerbehörde offensichtlich niemand arbeiten will. Das neue Gesetz wird daran wenig ändern. Denn im Haushalt sind unter „Erfüllungsaufwand der Verwaltung“ lediglich 6,8 Millionen für Stellen und Digitalisierung vorgesehen, völlig unzureichend, um die Engpässe bei der Visavergabe zu beseitigen.
Nicht zuletzt aufgrund von Versäumnissen in der Vergangenheit ist unsere gesamte Infrastruktur nicht für Zuwanderung ausgelegt und für Zuwander*innen, verglichen mit anderen Ländern, auch nicht sonderlich attraktiv. Es fehlen Hunderttausende bezahlbare Wohnungen, es herrscht ein Mangel an Kitaplätzen – trotz Rechtsanspruch fehlen bundesweit 378.000 Plätze – und es fehlen Lehrkräfte an Schulen. Schon die Kinder aus der Ukraine können schulisch nicht adäquat versorgt werden und – welch ein Armutszeugnis – jedes vierte Kind in der 4. Klasse kann nicht richtig lesen. Außerdem produzieren wir jedes Jahr 50.000 Schulabgänger ohne Abschluss. Das Bildungssystem wird seit Jahren sträflich vernachlässigt und ist chronisch unterfinanziert, mit mittel- und langfristig gravierenden gesellschaftspolitischen Folgen.
Visavergabe und vernachlässigte Infrastrukturen veranschaulichen beispielhaft: Es braucht mehr als ein Zuwanderungsgesetz, um den Fachkräftemangel anzugehen. Statt des nicht mehr zeitgemäßen und für die Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen ungeeigneten Silodenkens einzelner Ministerien braucht es systemisches Denken und Handeln, d.h. eine ganzheitliche Migrations-, Integrations-, Sozial- und Bildungspolitik sowie eine dementsprechende administrative Umsetzung.
Die Bundesregierung rechnet mit 75.000 zusätzlichen Zuwanderern pro Jahr durch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ganz offensichtlich viel zu wenig, um die demographische Lücke zu schließen. Die Bundesregierung muss sich daher fragen lassen, wie sie ein Gesetz beschließen lassen kann, von dem sie von vorneherein weiß, dass es unter der Zielzahl von 400.000 Zuwanderern drunter durchläuft, zumal bekannt ist, dass Fachkräftesicherung Wohlstandssicherung bedeutet.
Auch werden alle Bemühungen, inländische Potenziale zu heben, nicht annähernd reichen, um die demographische Lücke zu schließen. Da sind zum einen die verstärkten Qualifizierungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose zu nennen, wie sie im Rahmen des Bürgergeldes vorgesehen sind. Zum anderen geht es um einen höheren Anteil von Frauen im Erwerbsleben. Dies setzt ein flächendeckendes Betreuungsangebot, den Ausbau von Ganztagsangeboten in Krippen, Kitas und Schulen voraus. Die Fachkräfte dafür fehlen. Zum dritten können verstärkt Ältere beschäftigt werden, nicht durch gesetzlichen Zwang, sondern man wendet sich an diejenigen, die aus freien Stücken arbeiten wollen. Bereits heute arbeiten 1,3 Millionen Rentner*innen.
Bei allen Arbeitsplatz- und Arbeitsmarktmaßnahmen, die Zuwanderer und Einheimische betreffen, schwingt immer die Botschaft mit, die Menschen im Inland haben Vorrang und die Einwanderer kommen nur zusätzlich hinzu. Es dürfte klar sein bzw. müsste klar kommuniziert werden: Zuwanderer nehmen uns keine Arbeitsplätze weg, sondern sie können helfen, die Zahl der offenen und besetzbaren Stellen zu verringern. Angesichts von fast 2 Millionen offenen Stellen Ende 2022 und der Notwendigkeit von 400.000 Zuwanderern pro Jahr müsste vielen Menschen der Zusammenhang zwischen Einwanderung, Wirtschaftswachstum und stabilen Sozialsystemen vermittelbar sein bzw. dass umgekehrt nicht ausreichende Zuwanderungszahlen erhebliche Wohlstandsverluste und ein massives Herunterfahren der Sozialsysteme zur Folge haben würden.
Daran knüpft sich die Zukunftsfrage an, wer für die Prosperität von morgen sorgen soll. Das ist zugleich eine eminent politische Frage. Denn Rechtspopulisten und Rechtsextremisten, wie auch die AfD, stehen für eine deutsche Nation mit homogener ethnischer und religiöser Zugehörigkeit, wobei „Deutsch-Sein“ ihren Identitätsanker bildet. Vor dieser Folie wird „Fremd-Sein“ als Bedrohung wahrgenommen, das Eigene gegen das Fremde ausgespielt; so kann nahtlos an latente und manifeste Ausländerfeindlichkeit angeknüpft werden. Abstiegsängste, soziale Ungleichheit und Kontrollverluste werden gezielt politisch instrumentalisiert und dabei mit Fremdenfeindlichkeit vermischt. Der jahrelange Streit um die Flüchtlingspolitik und das mangelhafte Asylsystem haben ein Übriges getan und eine Abwehrhaltung befördert, die die Unterscheidung zwischen Asylbewerber und Zuwanderer bei vielen Menschen verwischt hat.
Die Akzeptanz für Einwanderung besteht nur in Teilen der Gesellschaft, zumal wenn die Mitte bröckelt und es Kalkül der Union sein sollte, politischen Nutzen aus rassistischen Vorurteilen und gesellschaftlicher Polarisierung zu ziehen. Vergeblich sucht man auch nach Stellungnahmen der Wirtschaftsverbände, denn die Wirtschaft kann nicht auf der einen Seite um Fachkräfte werben und auf der anderen Seite der AfD ahnungs- und widerspruchslos begegnen. Ressentiments und negative Stereotype verhindern Zuwanderung, behindern Integration und bremsen die wirtschaftliche Entwicklung dramatisch ab. Die Bundesregierung hat es beim Fachkräfteeinwanderungsgesetz versäumt, diese Zusammenhänge offensiv in die Bevölkerung zu tragen; sie hat es verpasst, mit dem Gesetz sich für eine Willkommenskultur stark zu machen sowie mit neuen Narrativen dafür zu werben, dass Zuwanderung, wie in Kanada, als ein Gewinn wahrgenommen wird. Zugleich hat das Fachkräftegesetz ein Schlaglicht auf marode Infrastrukturen in Deutschland geworfen.
In die Infrastruktur musss dringend investiert werden. Aber stattdessen betreibt die Ampel Klientelpolitik, ergeht sich in kleinlichen profilneurotischen Streitereien, verhält sich in Verwaltungs- und Verfahrensfragen dilettantisch und facht so eine Empörungskultur an, die wie ein Förderprogramm für die AfD wirkt. Der Demontage des Sozialstaats hat die Ampel nichts entgegengesetzt, bei der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit versagt und damit die Polarisierung der Gesellschaft befördert, was von der AfD durch das Schüren von Verlust- und Abstiegsängsten dankbar aufgegriffen wurde.
Obwohl eine Zweidrittelmehrheit in Umfragen die sozialen Unterschiede und die Verteilung des Wohlstands in Deutschland beklagt, passiert bei der Verringerung der Unterschiede zwischen Arm und Reich nichts. Im Gegenteil. Während die Mittelschicht gerade am unteren Ende bröckelt und Menschen in untere Einkommensschichten abrutschen, gewinnt die obere Einkommensschicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahren noch größer geworden. Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ scheint gefühlt Lichtjahre entfernt. Dabei beruhte die Stabilität westlicher Demokratien bisher auf einem Wohlstandsversprechen. Durch die Priorität auf wirtschaftlicher Stabilität droht nun die soziale und gesellschaftliche Destabilisierung. Es ist zu wenig Geld da, nicht nur für Bildungs- und Sozialpolitik, sondern auch für die Bundeswehr, den Klimawandel, die Bahn etc. Die Ampel stolpert hilflos von einem Einsparungsvorschlag zum nächsten, löst damit aber immer nur neue Empörungswellen aus. Mit seinen Mantren „keine Steuererhöhungen“ und „Schuldenbremse“ schließt der Finanzminister Einnahmequellen, wie Erbschafts- oder Vermögenssteuer, und damit eine wirksame Umverteilung aus. Die Ampel beraubt sich dadurch möglicher Handlungs- und Gestaltungsspielräume und treibt die Gesellschaft immer weiter in die soziale Destabilisierung und in die Polarisierung, die ganz im Interesse der AfD liegt und von ihr ihrerseits betrieben wird.
Anerkennungsbedürfnisse, Kontrollverluste, die wachsende Distanz zur Demokratie, sie werden nicht wirklich wahrgenommen, Diskurse, die diese Realitäten aufnehmen, nicht geführt. Gefangen in den jeweiligen parteipolitischen Glaubenssätzen ist ein Spurwechsel nicht erkennbar. Das ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die Sorge macht.
Fehlende Fachkräfte gefährden unseren Wohlstand, unterlassene Umverteilungspolitik gefährdet unsere Demokratie.
Gelingende Veränderung braucht soziale, ökonomische und kulturelle Sicherheit.