Sozialer Kollaps oder Transformation? Der Kampf um die Zukunft des Sozialen – Kampf um Wohlstand und Demokratie

Die Arbeit im sozialen Sektor ist gesellschaftsrelevant. Rund drei Millionen Menschen arbeiten dort versicherungspflichtig, verglichen mit etwa 800.000 Beschäftigten in der Autoindustrie. Doch die Leistungsfähigkeit des deutschen Sozialstaats als Grundstock des deutschen Produktionsmodells ist nicht mehr so ohne Weiteres gesichert. Grundlegende Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge, die wir als selbstverständlich erachten, drohen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten wegzubrechen.

Als Folge der Alterung der Gesellschaft schnellt die Zahl der Pflegebedürftigen nach oben – aktuell bräuchten wir rund 56.000 zusätzliche Heimplätze – während auf der anderen Seite ein Wegbrechen der pflegerischen Versorgung passiert, wir bräuchten 200.000 Pflegekräfte mehr. Laut einer Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes fehlen bis zum Jahr 2049 – je nach zugrunde gelegter Variante – zwischen 280.000 und 690.000 Pflegekräfte. Bei der Trend-Variante, diese berücksichtigt positive Trends am Pflegearbeitsmarkt, beträgt die Lücke zwischen Angebot und Bedarf 280.000 Pflegekräfte, bei der Status quo-Variante sind es 690.000. Der akute Personalmangel führt schon seit längerem bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einer sich selbst verstärkenden Spirale aus Überlastung, krankheitsbedingten Ausfällen und letztlich zu Arbeitsplatz bzw. Berufswechsel. Und Personalmangel führt zu Angebotsmangel. Die wegbrechenden Versorgungskapazitäten sorgen für enormen Druck in tausenden Familien, die nicht mehr wissen, wie sie die Pflege ihrer Angehörigen organisieren sollen. Sie fehlen zudem auf dem Arbeitsmarkt, weil ein Teil von ihnen seine Erwerbstätigkeit reduzieren oder sogar einstellen muss. Die Zahl von über drei Millionen Pflegebedürftigen, die überwiegend durch Angehörige gepflegt werden, dürfte daher zwangsläufig zunehmen.

Überlegungen und Ansätze die Versorgungslücke zu verkleinern, gibt es auf unterschiedlichen Ebenen. Am weitestgehenden in ihren Auswirkungen dürfte eine Bertelsmann-Studie sein, die mit dem Ziel einer verbesserten Versorgungsqualität eine Neuordnung der Krankenhauslandschaft vorschlägt.  Danach ginge mit der Reduzierung der Klinikanzahl von knapp 1.400 auf etwa 600 Kliniken nicht nur eine bessere Ausstattung und höhere Spezialisierung, sondern auch eine bessere Betreuung durch Fachärzte und Pflegekräfte einher. Im Mai 2024 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Karl Lauterbach verabschiedet, der in eben diese Richtung zielt und zugleich ein Schritt in Richtung Bedarfsplanung ist. Über eine veränderte Krankenhausfinanzierung sollen eine bessere Versorgungsqualität und effizientere Strukturen generiert werden – bei deutlich weniger Krankenhäusern. Ein Effekt der Reduzierung der Klinikanzahl wäre wohl, dass Pflegekräfte frei würden für die ambulante Pflege, die ebenfalls unter einem tiefgreifenden Anpassungsdruck steht.

Für eine Entschärfung der aktuell dramatischen Situation müsste die Pflegeversicherung von versicherungsfremden Leistungen befreit, ferner müssten die Kosten der Anbieter für die pflegerischen Leistungen umfassend und zeitnah refinanziert sowie laufend dynamisiert werden. Denn die Lohnsteigerungen sind nicht ausreichend gegenfinanziert. D.h. mehr Geld muss in das Gesundheitssystem fließen.  Darüber hinaus werden unterschiedliche Lösungen zur Sicherung des Pflegebedarfs diskutiert, z.B. die Akademisierung des Pflegeberufes, eine Vereinfachung der Anerkennung ausländischer Pflegeausbildungen oder wie mit einem geringeren Fachkräfteanteil Qualität sichergestellt werden kann.

Durch professionelle Pflege allein lässt sich die Versorgungslücke nicht schließen. Auch nicht durch den Einsatz von Digitalisierung, Robotik und KI in vollstationären, teilstationären und ambulanten Einrichtungen, gleichwohl es zu leichten Entlastungseffekten kommen würde. Eine sicherlich notwendige Integration zivilgesellschaftlichen Engagements in die ambulante Pflege, nachbarschaftliche Hilfen und Zusammenschlüsse von Menschen, die sich gegenseig stützen und unterstützen, könnten die Lücke ebenfalls etwas entschärfen, bei weitem  aber nicht den wachsenden Bedarf decken.

Menschen, die über finanzielle und andere Ressourcen verfügen, werden auch angesichts einer merklich verknappten Angebotslage für sich und ihre Familien sorgen können. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen benachteiligt sind, haben diese Möglichkeit nicht. Die soziale Ungleichheit in Deutschland wird dadurch weiter zunehmen.

Wie in der Pflege besteht auch in Kindertagesstätten eine drückende Personalnot. 2023 fehlten in Deutschland rund 384.000 Kitaplätze und über 100.000 Erzieherinnen. Für diese Fachkräfte würden zusätzliche Personalkosten von 4,3 Milliarden Euro entstehen. Hinzu kämen Betriebs- und Baukosten für die Kitas. Das Problem tritt noch deutlicher zutage, wenn alle Kitas einen kindgerechten Personalschlüssel aufweisen würden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten gut 300.000 Fachkräfte zusätzlich eingestellt werden, was Personalkosten in Höhe von 13,8 Milliarden Euro nach sich ziehen würde. Wie vor diesem Hintergrund 2026 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen personell umgesetzt werden soll, ist Eltern kaum glaubwürdig zu vermitteln. Der gesetzlich verankerte Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung kann schon seit Jahren vielerorts nicht eingelöst werden. Die Auswirkungen sind für alle Beteiligten deutlich spürbar.

In den Kindertagesstätten werden Kinder nicht so gefördert wie es pädagogisch erforderlich wäre. Lern- und Kompetenzentwicklung von Kindern und Jugendlichen verschlechtern sich schon seit Jahren. Schuleingangsuntersuchungen und PISA-Ergebnisse legen beredt davon Zeugnis ab. Auf Seiten der Fachkräfte führt der Personalmangel, genau wie in  der Pflege, zu einer sich selbst verstärkenden Spirale aus Überlastung, verminderter pädagogischer Qualität, krankheitsbedingten Ausfällen und letztlich zu Arbeitsplatz- bzw. Berufswechsel.

In Folge des Personalmangels kommt es zu verkürzten Betreuungszeiten, zu Notbetreuung, zur tageweisen oder kompletten Schließung von Gruppen oder von Kitas. Die Eltern müssen die Betreuung selbst organisieren, während den Kindern ihr Recht auf professionelle Begleitung in der frühen Bildung vorenthalten wird. Unkalkulierbare Öffnungszeiten, aber vor allem fehlende Plätze in Kitas, führen laut Jutta Allmendinger zur Retraditionalisierung im Sinne einer Rückkehr zur klassischen Rollenverteilung, mindern das Erwerbspotenzial von Eltern, insbesondere von Alleinerziehenden, und verursachen so volkswirtschaftliche Kosten.

Angesichts dieses Szenarios nehmen sich Lösungsansätze, wie die folgenden, eher bescheiden aus: Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch eine bessere Personalausstattung, Entlastung der Fachkräfte durch die Beschäftigung von Hauswirtschaftskräften und Quereinsteigerinnen sowie Ausbau der Ausbildungsplätze. Hilfreicher wäre es, der Bund würde in großem Umfang in die Finanzierung des Kita-Systems einsteigen und klammen Kommunen unter die Arme greifen. Dazu wären allerdings deutlich mehr als die zwei Milliarden Euro, die er  in 2023 und 2024 für den Qualitätsausbau in Form kindgerechter Personalschlüssel bereitstellt, erforderlich.

Nicht nur in den bekannten Problembereichen Pflege und Kindertagesstätten droht sich die bestehende Krisensituation weiter zu verschärfen; die größte Fachkräftelücke besteht in der Berufsgruppe Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Sozialarbeiter und Sozialpädagoginnen werden beispielsweise in der Schulsozialarbeit, in der Berufseinstiegsbegleitung, in der Migrationsberatung, in Kinder- und Jugendheimen sowie in der Suchtberatung dringend gebraucht, also überall dort, wo Menschen persönliche Begleitung für die Lösung sozialer Probleme benötigen. Der besorgniserregende Mangel an qualifizierten Arbeitskräften betrifft den gesamten sozialen Sektor. Hinzu kommt: Im Wettbewerb um Fach- und Arbeitskräfte hat der soziale Sektor im Vergleich zu anderen Branchen, die sich auch um die Attraktivität ihrer Beschäftigungsbedingungen bemühen müssen, strukturelle Nachteile, denn Pflege-  und Betreuungsbedarfe oder Hilfen in sozialen oder gesundheitlichen Notlagen lassen sich nicht nur in der Kernarbeitszeit von 9 bis 17 Uhr erledigen. Zur Steigerung der Attraktivität der Arbeitsplätze gehören daher als Stellschrauben eine verringerte Arbeitsbelastung, familienfreundliche Arbeitszeiten und weniger Schicht- und Wochenendarbeitszeit.

In ihrem Buch „Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor“ zeichnen Christian Hohendanner, Jasmin Rocha und Joß Steinke ein düsteres Bild dessen, was ohne politisches Gegensteuern auf den deutschen Wohlfahrtsstaat absehbar zukommen dürfte: Das Wegbrechen grundlegender Leistungen und den Zusammenbruch ganzer Strukturen. Sie schlagen vor, die unweigerlich entstehenden weißen Flecken in der sozialen Versorgung per Meldestellen zu erfassen, um so einen unkontrollierten Zusammenbruch der Systeme zu verhindern.  Menschen in strukturschwachen Regionen, alte Menschen, Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern werden die Verlierer dieser Entwicklung sein. Werden diese und andere Gruppen gesellschaftlich abgehängt, vergrößert dies die soziale und regionale Ungleichheit, lässt die Gesellschaft weiter erodieren und hilft mit Sicherheit nicht, den Rückhalt für unsere Demokratie zu stärken, sondern ist Wasser auf die Mühlen rechter Parteien.

Die Aussichten sind auch deshalb düster, weil tiefgreifende Reformen, geschweige denn eine große Sozialreform, die die Gesetzliche Rentenversicherung, die Gesetzliche Krankenversicherung und die Soziale Pflegeversicherung einbezieht, an mangelndem politischen Interesse scheitern. Es gibt derzeit keine Partei, die die Strukturprobleme im Sozialsektor im Grundsätzlichen zum Thema macht. Lieber reibt man sich in populistischer Manier am Bürgergeld; das verspricht Stimmen bei der nächsten Wahl.

Hinzu kommt die Ökonomisierung des sozialen Sektors. Markt und Effizienz funktionieren aber nicht überall im Sozialen, denn der Markt pickt sich die Rosinen raus; er orientiert sich an den Profitchancen, nicht an den Bedürfnissen der zu Versorgenden. Für eine gute pflegerische und soziale Versorgung müssten mehr Mittel aus Sozialversicherungen und  Steuermitteln aufgebracht werden. Angesichts von großen finanziellen Anstrengungen, etwa  in Verteidigung und Klimaschutz, werden zusätzliche Steuermittel für Personal und Ausstattung im Sozialen von dem politischen Radar nicht wirklich erfasst.

Trotz dieses düster skizzierten Szenarios haben die Autoren in ihrem Buchtitel den Kollaps mit einem Fragezeichen versehen. In 17 Punkten zeigen sie auf der betrieblichen und auf der politischen Ebene Wege auf, um den sozialen Kollaps doch noch zu verhindern oder wenigstens gezielt abzubremsen. Auf betrieblicher Ebene schlagen sie vor, die Potenziale besser auszuschöpfen, u.a. durch kreative Lösungen für Schichtarbeit, Entfristung von Arbeitsverträgen, Reduzierung von Belastungen, Gesundheitsförderung und das Heben von Arbeitszeitpotenzialen. Auf der politischen Ebene fordern sie Handeln gegen den Kollaps des Sozialen ein. Dazu gehört u.a. den regionalen Versorgungsmangel auf der Bundesebene zu erfassen und zielgerichtete Ausgleichsmechanismen zu schaffen, eine integrierte Beschäftigungspolitik für den gesamten Sektor aufzusetzen, neue Debatten zur Verteilung der Sorgearbeit zu führen, Strukturförderung zu ermöglichen und Projektorientierung zurückzufahren, Bürokratie abzubauen, freiwilliges Engagement aktiv zu fördern und Digitalisierung gezielt zu nutzen.

Implizites Fazit der 17 Punkte ist: Ausbleibendes Handeln und unterlassenes Gegensteuern auf betrieblicher und politischer Ebene bringen uns dem Kollaps des Sozialen immer näher und machen selbst eine gesteuerte Transformation kaum noch möglich. Wahrscheinlich ist, dass soziale Strukturen Stück für Stück wegbröckeln und die zunehmenden Anzeichen von Schrumpfung öffentlich noch sichtbarer werden.

In einem ihrer 17 Punkte heben die Autoren hervor, dass es notwendig ist, die Menschen auf absehbare Versorgungslücken und bevorstehende Unterversorgungsszenarien vorzubereiten, damit sie sich rechtzeitig mit der verknappten Angebotslage auseinandersetzen und ihre Lebensumstände entsprechend anpassen können. Sonst würden Engpässe und krisenhafte Situationen vor allem  den demokratischen Parteien angelastet. Die bevorstehenden Verlusterfahrungen dürften nicht populistisch verdeckt, sondern müssten offen verhandelt werden.

Spannend dabei zu beobachten wird sein, wie demokratische Parteien erfolgreich bleiben können, wenn sie mit Verlusten, Ohnmachtsgefühlen und Unsicherheiten  umgehen und sie zugleich erklären und moderieren müssen. Die Europawahl hat da bereits erste Hinweise gegeben. Angesichts von Kriegen, Inflation und Klimawandel, angesichts von multiplen Krisen und Überforderung wünschen sich junge Menschen vor allem Sicherheit, die sie offensichtlich zu größeren Teilen in den einfachen Parolen der AfD gefunden haben.

Fachkräftemangel ist  nun keinesfalls nur ein Problem des sozialen Sektors, sondern auch eins im Handwerk, in der Gastronomie, im Maschinenbau, in der Informationstechnik etc. Der Fachkräftemangel bremst Deutschland in vielen Branchen aus. Einer Studie des IW Kölln zufolge entgehen der deutschen Wirtschaft durch den Fachkräftemangel Produktionskapazitäten im Wert von 49 Milliarden Euro. Folgekosten, wie ausbleibende Innovationen oder ein erhöhter Krankenstand bei den  verbleibenden Mitarbeitern, sind da noch gar nicht mit eingerechnet.

Sozialpolitik kann auch aus anderen Gründen nicht isoliert betrachtet werden; sie ist mit anderen Politikfeldern, wie etwa Migrations-, Integrations-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, eng verwoben. Laut Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung könnten aufgrund der demographischen Entwicklung  – die Babyboomer gehen in Rente – weitere sieben Millionen Fachkräfte verloren gehen, was dazu führen würde, dass das Wachstum der nächsten Jahre auf ein Drittel des langjährigen Durchschnitts sinkt und mithin einen massiven Wohlstandsverlust zur Folge hätte.. Etliche Studien, so eine der Wirtschaftsvereinigung der Grünen, machen nun Vorschläge, wie dem Fachkräftemangel begegnet werden kann. Dabei stellen bessere Möglichkeiten für Ältere länger zu arbeiten bzw. als Rentner weiter zu arbeiten ein  Potenzial von 2,4 Millionen Personen bis 2035 dar.

Eine zweite große Gruppe sind Frauen, die mehr arbeiten wollen, aber keine ausreichende Kinderbetreuung finden. Dem Statistischen Bundesamt zufolge arbeitet die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in Teilzeit, durchschnittlich 22,3 Stunden. Würde jede der in Teilzeit erwerbstätigen Frauen ihre Wochenarbeitszeit um zwei Stunden erhöhen, ergäbe sich rechnerisch ein zusätzliches Arbeitsvolumen in Vollzeit von rund 500.000 Erwerbstätigen. 20 Prozent der weiblichen Fachkräfte und 30 Prozent der Hilfskräfte möchten mindestens 4 Stunden in der Woche länger tätig sein. Daraus ergäbe sich ein Arbeitsvolumen von insgesamt rund 800.000. Um dieses Arbeitskräftepotenzial zu erschließen und Frauen Mehrarbeit zu ermöglichen bräuchte es mehr Erzieherinnen und mehr Investitionen der Länder und Kommunen in den Kita- und Hortausbau. Den dadurch entstehenden Kosten stünden zusätzliche Einkommen und Wirtschaftskraft in Höhe von 23 Milliarden Euro gegenüber.

Wenn es darum geht, die hierzulande mehr als anderthalb Millionen unbesetzten Stellen zu besetzen, fällt der Blick wie von selbst auf die Bürgergeldempfänger, die durch Sprachkurse und Weiterbildungsmaßnahmen schneller an den Arbeitsmarkt herangeführt werden könnten. Der Blick fällt aber auch  auf die steigende Zahl von Schulabgängern, die keinen Abschluss schaffen. Das sind inzwischen mehr als 50.000, 6,9 Prozent eines Jahrgangs. Und er fällt auf 2,6 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 34 Jahren ohne formalen Berufsabschluss. Das entspricht gut 19 Prozent dieser Altersgruppe. Hier bedarf es  Investitionen, die zu mehr  Schul- und Berufsabschlüssen führen, um  darüber die Wirtschaftsleistung wieder zu stärken. Voraussetzung dafür ist, die Personalengpässe an den allgemein- und den berufsbildenden Schulen zu beseitigen.

Es ist zweifellos dringend notwendig, alle Potenziale im Land zu heben. Gleichzeitig brauchen wir aber auch mehr Zuwanderung, um unseren Wohlstand zu sichern, und zwar 400.000 neue Arbeitskräfte pro Jahr, um uns ökonomisch und politisch behaupten zu können. Derzeit beträgt der Anteil von Menschen ohne deutschen Pass an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen 15,3 Prozent. Sie tragen zur Fachkräftesicherung bei und zahlen in die Sozialkassen für Rente, Krankheit und Pflege ein. Da die Beschäftigung deutscher Staatsangehöriger wegen der Alterung weiter sinkt, müssen ausländische Arbeitskräfte die Jobschwäche der Deutschen kompensieren.  Die Hürden für eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt sind bekannt: überforderte, weil unterbesetzte Ausländerbehörden, quälend lange Anerkennungsverfahren ausländischer Berufsabschlüsse, keine Kitaplätze, keine bezahlbaren Wohnungen, fehlende Lehrkräfte an Schulen, um die Kinder der Neuankömmlinge zu unterrichten  und nicht zuletzt eine nicht mehr zu kaschierende Ausländerfeindlichkeit. „Deutschland den Deutschen“, diese rassistische Ausgrenzung der Zugewanderten durch die AfD schreckt Zuwanderungswillige ab und schadet massiv dem Wirtschaftsstandort Deutschland.

Der mit den enormen demographischen Herausforderungen verknüpfte Fachkräftemangel trifft auf ein Deutschland, das sich mit dem Wandel schwer tut. „Das haben wir immer schon so gemacht“ ist ein geflügeltes Wort in der Verwaltung, um Neuerungen abzuwehren. Und der Fachkräftemangel trifft auf eine grundlegend überholungsbedürftige Infrastruktur: marode Brücken, kaputte Straßen, fehlende Netze, fehlende Kitaplätze etc. Das Industrieland Deutschland hat über Jahre zu wenig investiert und jetzt kommen neue Investitionsbedarfe, etwa für die Bundeswehr, den Klimawandel oder die Digitalisierung hinzu. Der Industrieverband benennt ein Defizit von 400 Milliarden Euro für den Erhalt und Ausbau von Verkehrswegen, Schulen, Energie- und Digitalnetzen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung kommt sogar auf 600 Milliarden Euro in den kommenden 10 Jahren, um die Infrastruktur zu ertüchtigen.

Die zentrale Frage ist, wer für diese gigantischen Summen aufkommen soll. Derzeit tobt ein  Kampf um die Schuldenbremse, der in Teilen dogmatische Züge hat. Angesichts der enormen finanziellen Herausforderungen macht es keinen Sinn, eine konkrete Darlehensgrenze von 0,35 Prozent der Wirtschaftsleistung im Grundgesetz für alle Zeiten festzuschreiben. Sollte die Schuldenbremse aus rechtlichen Gründen im Moment nicht umsetzbar sein, wäre eine naheliegende Alternative, ein verfassungsfestes Sondervermögen zu beschließen. Denn ohne Investitionen wird der künftige Strukturwandel noch schmerzhafter und ohne gut ausgebildete Fachkräfte kann die deutsche Wirtschaft nicht prosperieren; eine Sichtweise, die vom BDI, den meisten deutschen Ökonomen und von internationalen Organisationen, wie dem IWF, geteilt wird.

Weitere Maßnahmen, wie beispielsweise der Abbau klimaschädlicher Subventionen und Steuererhöhungen auf Verbrauchsgüter, müssen hinzukommen. ferner müssen die sehr Wohlhabenden mehr zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen; sie müssten stärker besteuert werden. Für weniger soziale Ungleichheit und um zu verhindern, dass die Schere bei der Vermögensverteilung immer weiter auseinander geht, ist eine Erbschafts- und Vermögensteuer ein taugliches Mittel. Um dies zu untermauern:  Zwischen 2008 und 2020 erbten 3630 Personen zusammen 260 Milliarden steuerfrei, also im Durchschnitt pro Kopf 71 Millionen Euro. Seit Jahren sperren sich Konservative und Liberale jedoch gegen die Einführung einer Erbschafts- und Vermögensteuer.

Nicht zuletzt aufgrund der enormen gesellschaftlichen Herausforderungen haben sich die Positionen über die künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zugespitzt. Mit Sparen, Schuldenbremse einhalten, Kürzungen im Sozialbereich zugunsten von Investitionen in die Industrie lässt sich eine Position knapp umreißen. Ausgaben für den Sozialstaat werden als Wettbewerbs- und Standortnachteil gesehen. Die daraus folgende voranschreitende Ökonomisierung des Sozialen in Richtung individueller Vorsorge und Selbstverantwortung hat in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass nicht alle in gleicher Weise an den sozialen Leistungen teilhaben. Während profitorientierte Unternehmen Angebote für diejenigen vorhalten, die mit hohem Einkommen und Vermögen ausgestattet sind, können auf der anderen Seite  Pflegebedürftige Leistungen nicht  in Anspruch nehmen, weil sie sie sich schlichtweg nicht leisten können. Sozialkürzungen führen zu sozialem Unfrieden, Populismus und autoritären Strukturen und sie gefährden den sozialen Zusammenhalt. Deutschland hat unter Brüning Anfang der 1930er Jahre schon einmal den Fehler gemacht, eine Wirtschaftskrise durch Sparpolitik ökonomisch und politisch zu verschlimmern.

Eine andere Position setzt auf eine expansive Finanzpolitik, in der lebensfähige und für alle verfügbare Infrastrukturen, wie Kitas, Kliniken, Energienetze etc., Basis des Zusammenlebens sind.  D.h. moderne Infrastrukturpolitik muss sich am Gemeinwohl und der Zukunftsvorsorge orientieren, sich diesen Zielen unterordnen. Eine Umverteilung von oben  nach unten zum Zweck der sozialen Grundsicherung aller Bürgerinnen und Bürger hat eben diesen Hintergrund.

Der Kampf um die Zukunft des Sozialen ist ein Kampf um Fachkräfte, Infrastruktur und finanzielle Mittel. Mit weitreichenden Auswirkungen. Denn Sozialstaat und Demokratie gehören zusammen.

 

 

 

 

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