Krise und Erschöpfung sind wohl in der Wahrnehmung vieler Menschen in Deutschland zwei Begriffe, die gut zu dem zu Ende gehenden Jahr 2023 passen: Der Hamas-Terror gegen Israel und der Krieg im Gazastreifen, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, damit verbunden sicherheitspolitische Herausforderungen, Energiekrise und steigende Inflation bei noch nicht überwundener Corona Pandemie, ferner die zunehmend spürbare Erwärmung der Erde mit Dürren, Bränden und Überschwemmungen sowie potenzielle geopolitische Brandherde, wie Taiwan, Nordkorea oder Jemen. Die Welt erscheint uns Ende 2023 instabiler, unsicherer und bedrohlicher. Zu der Überdosis an Weltgeschehen kommt noch etliches an Hausgemachtem hinzu: Eine marode Infrastruktur mit reparaturbedürftigen Straßen und Brücken, eine nicht gut funktionierende Bahn, ein angeschlagenes Gesundheitssystem, eine Vielzahl unterzubringender Flüchtlinge, schleppende Digitalisierung, ein schwächelndes Schulsystem, und, und, und.
Das alles trifft auf Nachkriegsgenerationen, die bisher von großem Unbill und Leid verschont geblieben sind, die eine lange Zeit hinter sich haben, die von permanentem Wachstum, Streben nach höheren Lebensstandards, privatem Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und der Grundannahme, dass der Fortschritt ständig voranschreitet, geprägt war. Zwar gab es den Kalten Krieg, Einbrüche der Gewalt, rassistische Anschlagsserien, die RAF, Ozonloch und sauren Regen, Zäsuren, wie den Fall der Mauer, aber es überwog doch ein Grundgefühl der Sicherheit und ein Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt. Auf eine entpolitisierte Zeit nach 1989 folgte dann die Repolitisierung von Teilen der Bevölkerung während der Finanzkrise von 2008 und anschließend die rechte „Antipolitik“ von Trump, Orban und Salvini. Der Mehltau der Merkel-Jahre produzierte eine Trägheitsdemokratie und überdeckte manches, was jetzt in den 20ern Stück für Stück aufbricht, Gefühle der Unsicherheit, der Ohnmacht und des Kontrollverlustes ausgelöst hat und in seiner Komplexität zu gesellschaftlichen Umbrüchen, aber auch zu Überforderungssituationen und Veränderungsmüdigkeit geführt hat.
Dabei hat sich eine gesellschaftliche Polarisierung mit in der Folge erodierenden Strukturen schon früh abgezeichnet. Die Finanz- und Währungskrise rückte als ein Treiber gesellschaftlicher Instabilität die Verarmung breiter Teile der Gesellschaft, die ihre Entsprechung in der Bereicherung eines kleinen Bevölkerungsteils am oberen Ende der Wohlfahrtsskala findet, ins Scheinwerferlicht. Folgt man dem Historiker Peter Turchin, war historisch betrachtet ein Wohlstandsverlust der unteren Mittelschicht und der Unterschicht schon immer ein signifikanter Indikator für gesellschaftlichen Niedergang. Denn Wohlstandsverlust bedeutet Instabilität und damit verbunden einen negativ konnotierten Wandel.
Der technologische und gesellschaftliche Wandel hat sich noch nie in der Menschheitsgeschichte schneller abgespielt als in den letzten gut 50 Jahren; er erfasst alle gesellschaftlichen Bereiche: Arbeit, Familie, Geschlechter, Sprache, Lebensentwürfe. Jede Veränderung führt dabei zur Störung von Gewohnheiten. Menschen mögen jedoch Unsicherheiten nicht, sie sind auf den Status quo programmiert. Konservativen, die auf das Bewahrende setzen, kommt das entgegen. Mit dem Narrativ “ früher war alles einfacher und besser“ suchen sie die Zukunft in der Vergangenheit, wie Friedrich Merz jüngst mit seinem Rückgriff auf die längst schon eingemottete Leitkultur wieder vorgeführt hat.
Die rapide Beschleunigung schafft gleich mehrfach Unsicherheiten und Ängste. Kommt hinzu, dass die (Regierungs-) Parteien keine Antwort auf die Krisen haben oder eine Antwort ihnen nicht zugetraut wird, fällt es vielen Menschen schwer, sich auf Neues einzulassen. Unsicherheiten sind jedoch die Brandbeschleuniger des Populismus. Populisten machen mit ihrer Vorstellung von den Gefahren des Wandels Politik; sie schüren Zweifel und Ängste, werten Staat, Gesellschaft und Demokratie ab und verstärken das Empfinden vieler Menschen stets nur Opfer zu sein. Sie entfachen Wut und Empörung gegen die da oben. An der Angst vor den negativen Seiten der Transformation und der Trauer um das, was nicht mehr so ist wie es einmal war, setzt die AFD erfolgreich an. Die durch Veränderungen erzeugten Ohnmachtsgefühle, die mit Wut überkompensiert werden, kanalisiert sie parteipolitisch und gibt Protestierenden und Veränderungsgenervten das Gefühl, wieder handlungsmächtig zu sein, indem sie sich gegen „das System“ wenden.
Das Programm der AfD bietet den Menschen allerdings nichts, was ihnen materiell in ihrem Leben helfen würde. Das Versprechen ist nicht Fortschritt oder Wachstum, sondern die Illusion einer Rückgewinnung des Verlorenen. Im Kern ist dies eine Nichtlösungspolitik einer Gegenelite, die auf autoritäre Strukturen rekurriert.
Die einen schauen wehmütig zurück und versuchen aus der Wiederherstellung des Gestern und einer verklärten Vergangenheit Zukunft zu gewinnen, so wie beispielsweise Trump es mit seiner Aufforderung „Make America great again“ tut, die anderen hoffen auf ein besseres Morgen. Dazwischen stehen Politiker wie Olaf Scholz, der souverän unscharf formuliert und in Merkelscher Manier möglichst zumutungs- und anstrengungsfrei agiert, um Mehrheiten zu behalten. Die damit verbundene Botschaft, macht euch keine Sorgen, es ist alles in Ordnung und im Plan, ist aber keine politische Antwort, sondern eine verwalterische, die zudem sprunghafte Veränderungen nicht zu erklären vermag.
Soll in Krisen nicht aus Zweifeln, Ängsten und Unsicherheiten Kapital geschlagen werden, braucht eine Gesellschaft ein realistisches Zukunftsszenario sowie Ziele und Optimismus, wobei Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Klimaanpassung die Schubkräfte eines technikgetriebenen Wandels sind, der sich bereits mit diversen Wendezeiten angekündigt hat (Energiewende, Agrarwende, Verkehrswende).
Die Grünen liefern ein solches Zukunftsszenario und eine Abwendung von der gegenwärtigen Praxis. Sie zielen auf die digitale und postfossile Nachhaltigkeitsgesellschaft; sie sehen im Wandel das Positive oder, wenn es um das Klima geht, sogar das unbedingt Nötige. Allerdings haben sie ihre Argumente mit einer gewissen Dosis an Moralität und Besserwisserei überfrachtet und meinen, ihre enkelfähige Politik nur mit Einschränkungen, Verboten sowie Verlusten am Wohlstandsniveau erreichen zu können. Das Gebäudeenergiegesetz, handwerklich so schlecht gemacht, dass es jede Stadt- oder Kreisverwaltung besser könnte, soll mit einem Verbot traditioneller Heizungen den Klimaschutz voranbringen. Es ist ein Gesetz, das in den privaten familiären Alltag eingreift, von vielen als übergriffig empfunden wird, Verluste an finanziellen Möglichkeiten, Gewohnheiten und Lebensart bedeutet und ohne ausreichende soziale Abfederung das spalterische Potenzial von konsequenter Klimapolitik zutage gefördert hat. Veränderungszuversicht entsteht dadurch nicht. Im Gegenteil, die Einsicht in notwendige Veränderung schlägt in Ablehnung um.
Der Ampel insgesamt ist es nicht gelungen, eine Aufbruchstimmung zu erzeugen und die notwendigen Umsetzungsschritte für die angestrebten ökologischen Ziele hinreichend plausibel zu erklären. Eine Aneinanderreihung von ad hoc-Entscheidungen reicht dafür nicht aus. Da reale Defizite und momentane Verunsicherungserfahrungen sich nicht verleugnen lassen, bleibt als Option ein neuer politischer Anlauf, der die offensichtlichen Fehler unter Berücksichtigung der eigenen Lernerfahrungen als Ausgangspunkt für ein positives Narrativ nimmt; eine neue Erzählung, die Transformation als Gewinn etabliert. Die Menschen müssen von Modernisierung und Innovation profitieren, auch finanziell. Klimaschutz muss Vorteile bringen. Belastungen und Zumutungen müssen gerecht verteilt werden. Gerechtigkeit ist ein wichtiges Thema. Zudem braucht es eine Grundsicherheit und möglichst einen Grundkonsens, um Umbruch und Aufbruch zu akzeptieren. Die ökologische Transformation wird nur gelingen, wenn sie auch ökonomisch und sozial eine Erfolgsgeschichte wird.
Aufgabe von Politik ist es, einen Konsens darüber herzustellen, wie wir in Zukunft leben wollen oder zumindest Lösungsentwürfe für den gefühlten Tsunami an Problemen anzubieten. Ein Konsens dürfte in der derzeitigen politischen Lage wohl nur schwerlich herzustellen sein. Denn Klimaschutz kann weder ohne sozialen Ausgleich funktionieren noch kann zugusten des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf Klimaschutz verzichtet werden. Eine ungebremste Klimakrise ist nicht zuletzt aufgrund der erwartbaren Verteilungskämpfe eine Bedrohung für die Demokratie. Durch den Klimawandel getriebene Strukturveränderungen sind langjährige und anstrengende Prozesse, in die Rückschläge und Disruptionen eingeschrieben sind. Sie treffen auf eine polarisierte und in unterschiedliche Milieus zerfasernde Gesellschaft. Noch nicht berücksichtigt sind hierbei geopolitische Imponderabilien, wie Migration, Systemkonflikte zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen, unterbrochene Lieferketten, Kriege etc., die alle Auswirkungen auf das innerstaatliche Gefüge haben, mithin nicht absehbare Krisen und Veränderungen produzieren. Veränderungen verlangen immer wieder neue individuelle und gesellschaftliche Anpassungsleistungen; eine Überforderung für viele Menschen. Genau für diese Allgegenwart von Überforderungsgefühlen und für die sich in Wut entladenen Alltagsängste muss Politik Lösungen finden.
Zukunft kommt nicht einfach, sie formt sich, je nachdem, welchen Weg eine Gesellschaft wählt und welche Entscheidungen Menschen treffen. Es gilt, die mit den einfachen Antworten, die Klimaleugner und Antidemokraten nicht hoffähig und schon gar nicht mehrheitsfähig zu machen.