Knappheit, Mangel, Verluste – wie gesellschaftlich damit umgehen?

Knappheit, sagt Armin Nassehi, macht sonst latent bleibende Selbstverständlichkeiten sichtbar. Die derzeitigen Krisen fördern zu Tage, was ohnehin latent zur Struktur moderner Gesellschaften gehört: die denkbar knappe Kalkulation an den Schnittstellen der Gesellschaft. Wie vulnerabel manche Arrangements sind, zeigt sich, wenn sich bestimmte Parameter verändern, z.  B. Energiepreise oder unterbrochene Lieferketten. Die Vulnerabilität weist dann schnell über das Ökonomische hinaus und greift auf unsere Lebensformen über.

Aus der Knappheit ist in einigen Bereichen schon längst ein Mangel geworden. So gibt es z.B. für mehr als 330 Medikamente Lieferengpässe, wir haben ein Defizit von 700.000 Wohneinheiten und es fehlen 400.000 Fachkräfte, Erzieherinnen, Lehrer, Fachkräfte in der Pflege, im Handwerk, in der Gastronomie usw. Ein chronifizierter Mangel als Ballast für die Zukunft. Hinzu kommen eine kaputtgesparte Infrastruktur mit maroden Brücken, Straßen, Schulgebäuden sowie bedenkliche, als krisenhaft erlebte Zustände, etwa bei der Deutschen Bahn oder der Bundeswehr. Paradoxerweise sind diese Mängel durch eine kurzsichtige Gesundheits- und Bildungspolitik sowie unterlassene Zukunftsinvestitionen ebenso selber hervorgebracht wie der Klimawandel. Je besser das Leben für immer mehr Menschen wurde, desto größer wurde natürlich der Ressourcenverbrauch. Der Wohlstand wurde zu Lasten der Natur erwirtschaftet. Die grenzenlose globale Wirtschaft mit ihren dezentralen Lieferketten und nahezu weltumspannender Mobilität sind zu Risikofaktoren geworden; die Globalisierung hat die Spaltung in Arm und Reich vertieft und ein Milieu der Verlierer der Modernisierung hervorgebracht. Corona hat diese strukturellen Krisen, wie die Klimakrise oder die soziale Ungleichheit, die Folgen des Wachstumsdenkens sind, aufgedeckt und teilweise noch beschleunigt. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat das Krisenhafte weiter verstärkt, Inflation und Verlusterfahrungen sind allgegenwärtig und haben die Alltagsunterstellung, dass es in grundlegenden Dingen immer so weitergeht, sichtbar in Frage gestellt.

Das blinde Vertrauen, dass nach jeder Krise der Aufschwung kommt und damit der in die Moderne eingebaute Zukunftsoptimismus, sie sind abhanden gekommen. Das war einmal anders: In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts übersetzte sich das Fortschrittsversprechen in die Aussicht auf sozialen Aufstieg. Wachstum war angesagt, immer schneller, höher weiter; Grundlage ein auf Effizienz und Optimierung ausgerichteter Marktfundamentalismus. Noch in den 90er Jahren war die Hoffnung auf Globalisierung und Demokratisierung eine Fortschrittsverheißung, die den Westen angetrieben hat. Wir haben also eine lange Zeit hinter uns, die von permanentem Wachstum, Streben nach höheren Lebensstandards, privatem Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und der Grundannahme, dass der Fortschritt ständig voranschreitet, geprägt war.

Vor dem Hintergrund dieser Folie sind die von Andreas Reckwitz beschriebenen Verlusterfahrungen zu sehen, die ein weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen kenntlich machen. Die kumulierenden Krisen erschüttern das Vertrauen in staatliche Institutionen und in eine Politik, die die Krisen – tatschlich oder vermeintlich –  nicht in den Griff bekommt. Sie lösen Gefühle der Unsicherheit, der Ohnmacht und des Kontrollverlusts aus. Die Verlusterfahrungen ballen sich insbesondere bei den Verlierern und Verliererinnen  der Modernisierung, bei den von Deindustrialisierung und Postindustrialisierung Betroffenen. Sie reichen bis in die Mittelschichten hinein. Rechte Populisten setzen genau hier an, an den enttäuschten Erwartungen sowie den Verlusterfahrungen und Verlustängsten der Modernisierungsverlierer. Das Versprechen ist nicht mehr Fortschritt, sondern die Illusion einer Rückgewinnung des Verlorenen: „Take back control“.

Bei retrospektiven Haltungen, dem Versuch, sich gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht wirklich zu stellen, sondern Realitäten zu verdrängen oder zu leugnen, liegt die Gefahr nahe, dass sie in politische Regressionen abgleiten. Ein dabei wiederkehrendes Muster ist, gravierende soziale Probleme zu rassifizieren und die Angst vor Fremden zu schüren, was zu bewusst provozierter Polarisierung und gesellschaftlicher Spaltung führt. Ein anderes Muster war während der Pandemie zu beobachten als über die Angemessenheit der Maske ein Streit über die Bedeutung von (individueller) Freiheit versus (staatlicher) Kontrolle entbrannte. Mit der Behauptung, es gehe den Herrschenden bei der Maskenpflicht um Gängelung, Kontrolle und Dirigismus fand zugleich eine Verschiebung des Fokus statt. Nicht die Klärung der Sachfrage war Gegenstand eines Diskurses, sondern stattdessen wurde in den sozialen Medien und auf der Straße eine Empörungskultur angefacht, die sich zunehmend verselbständigte. Steckt also im Modus des Umgangs mit kollektiven Herausforderungen ein Keim, der die Demokratie gefährdet?

Als Typus von Verlusten ist der Klimawandel sicherlich am wirkmächtigsten. Die Folgen werden immer sichtbarer: Extremwetter, Abholzung des Regenwaldes, Abschmelzen der Gletscher, Überschwemmungen, Waldbrände, Verlust landwirtschaftlicher Flächen und bewohnbarer Regionen einhergehend mit verschlechterten Lebensbedingungen und dadurch ausgelösten Migrationsbewegungen. Allein in 2021 wurden 432 Naturkatastrophen gezählt, von denen 170 Millionen Menschen betroffen waren. Dabei ist die Verlustantizipation für die Zukunft noch stärker als in der Gegenwart. Nicht mehr das Erreichen des Bestmöglichen, sondern die Verhinderung des Schlimmstmöglichen steht auf der Agenda.

Zwar ist die Angst vor etwas Zerstörerischem in unserer Gesellschaft stark ausgeprägt, bleibt aber offenbar abstrakt. Man glaubt nicht, dass das eigene Leben davon beeinflusst werden könnte, zumindest so lange nicht, bis man räumlich, zeitlich oder sozial damit persönlich konfrontiert wird. Und außerdem bietet die Gegenwart so viele handfeste Konsumchancen, dass es viele Menschen für dumm halten bloß zugunsten einer ohnehin düsteren Zukunft auf das zu verzichten, was man noch kriegen kann; zumal wenn der gewohnt konsumfreudige Lebensstil , sei es Mobilität, sei es Ernährung, ausschließlich mit dem Stigma des Verzichts versehen wird. Wie also den Wandel bewältigen, ohne dass es zu Einschnitten beim Wohlstand kommt, oder realistischer gefragt, zu welchen Einschnitten beim Wohlstand sind wir bereit?

Verlusterfahrungen gab es auch schon zu anderen Zeiten. Der britische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson plädiert für eine Weitung des Blickfeldes und relativiert die gegenwärtigen Krisen. Die Art und Weise wie wir über den Klimawandel sprechen, hält er für eine rhetorische Übertreibung; das Problem der Untergangsrhetorik sei, dass sie keine Lösungen anbietet. Und weiter zu der Polykrise: „Wir sagen immer das Ende der Welt vorher. In historischer Perspektive ist klar. Es ist nicht so ein großer Krieg, es war nicht so eine schlimme Pandemie, die Inflation ist nicht einmal zweistellig geworden…. Diese Terminologie erzeugt mehr Aufregung als Erkenntnis. Jetzt mal im Ernst: Würden Sie, wenn Sie die Wahl hätten, lieber 1923 leben als in 2023?“.

Ferguson setzt für die Zukunft auf technologische Innovation. Das bleibt erst einmal eine noch nicht mit entsprechenden Technologien unterlegte Hoffnung und er verbleibt damit im Rahmen ökonomischer Rationalität. Unbestritten dürfte hingegen sein, dass eine weltweite Solidarität bei den gemeinsamen Anstrengungen zur Bewältigung des Klimawandels gefordert ist. Derzeit ist das schwer vorstellbar, denn beispielsweise China, weltweit größter CO2-Emittent, setzt eindeutig Wachstum vor Klima. Eine belastbare weltweite Solidarität kann so kaum zustande kommen. Nicht einmal in Deutschland gibt es die. Denn während der Pandemie wurden im Rückgriff auf die Begründungsformel Solidarität Einschränkungen für das Alltagsleben eingeführt, was in Teilen der Bevölkerung zu Widerstand und Protesten führte. Der Solidaritätsgedanke kann sich heute nicht darauf berufen, Orientierung für die vielen, geschweige denn für alle, zu geben. Das Dumme ist darüber hinaus, so Heinz Bude, dass die politische Rechte das Verlangen nach einem ´Wir` zuerst entdeckt und mit ihren Vorstellungen einer ethnisch geschlossenen Abstammungsgemeinschaft kontaminiert hat. Gibt es also in Singularitätsgesellschaften, in liberalen Demokratien zwar noch eine solidarische Hilfe in bestimmten Notlagen, etwa bei Überschwemmungen, bei gesamtgesellschaftlichen Notlagen aber sonst nur die Möglichkeit einer per Zwang verordneten Solidarität, weil    Solidarität sich nicht mehr so einfach herstellen lässt und weil anders die Diskrepanz zwischen rationaler Erkenntnis und notwendigem Handeln nicht zu beheben ist?

Wie könnten angesichts von Klimawandel, wirtschaftlichem Strukturwandel, ineinander verwobenen Krisen und bedrohlich wirkenden geopolitischen Konstellationen denn Umrisse einer Strategie im Umgang mit Verlusten überhaupt aussehen? Wir leben in einer Zeit, in der an die Stelle des Glaubens  an den Fortschritt und die Machbarkeit das Gefühl fortschreitender existentieller Unsicherheit getreten ist. Weltuntergangsnarrative bewirken aber bloß Angst, Lähmung und Ohnmachtsgefühle; katastrophieren führt zu Depression und Aggression, wenn sich kaum etwas nach vorn in die Gestaltung von Zukunft richtet. Das Rufen nach einem Vollkaskostaat, der den Wohlstand erhalten soll, dürfte da wohl kein taugliches Mittel sein, eher schon Versuche, den Verlust als Gewinn zu verkaufen, einen Gewinn an Lebensqualität.

Wir werden künftig mit Verlusten leben müssen, sie in unser Leben integrieren. Axel Hacke formuliert das so: „Wir werden uns daran gewöhnen müssen, mit dem zu leben, was wir bisher für Krise halten und nun Normalität nennen sollten“, d.h. unsere Gesellschaft als vulnerabel zu begreifen.

Was bleibt, ist ein Festhalten daran, dass ein besseres Leben möglich ist als Grundlage für tatsächliche Veränderungen, Hoffnung als starker Antriebsmotor zum Handeln. Denn der Glaube an die bessere Zukunft gehört zu den grundlegenden Triebkräften im menschlichen Leben. Ansätze dazu gibt es. Stichwörter sind: nachhaltiges Wirtschaften, Kreislaufwirtschaft mit ihren ökologisch-regenerativen Geschäftsmodellen, ausschließliche Orientierung am Gemeinwohl. Wir brauchen einen anderen Weltzugang, keinen, wo alles zur Verfügung steht oder verfügbar gemacht wird, sondern einen, der Wirtschaft und Gesellschaft auf ein anderes Naturverständnis gründet, auf ein Leben und Wachsen mit der Natur, auf eine andere Beziehung zur nicht-menschlichen Welt. Und wir brauchen neue Narrative darüber was uns glücklich und zufrieden macht. Da hätte sogar ein kalibriertes Fortschrittsversprechen wieder Platz.

 

 

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