Tiefe Bildungskrise – das Bündnis „Bildungswende JETZT“ kämpft für ein zukunftsfähiges und inklusives Bildungssystem

Unsere Aufmerksamkeit richtet sich derzeit auf die Kriegsschauplätze in Israel und der Ukraine, auch auf Themen wie den Klimawandel und die Migration. Gänzlich unter dem Aufmerksamkeitsradar liegt unser Bildungswesen. Eigentlich unverständlich, denn wir stecken in einer veritablen Bildungskrise, die bereits jetzt zu erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten führt und noch zu weiteren führen wird.

Es fehlen knapp 300.000 Krippenplätze, obwohl es seit 10 Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz gibt. Die Glaubwürdigkeit des Staates angesichts nicht eingelöster Versprechungen wird hier fortlaufend ausgehöhlt. Laut Bertelsmann-Stiftung fehlen zudem 98.600 Fachkräfte, um den Bedarf zu decken und noch weitaus mehr, wenn alle Kitas einen kindgerechten Personalschlüssel aufweisen würden. Derzeit ist eine Fachkraft für 5-10 Krippenkinder zuständig, kindgerecht ist ein Personalschlüssel von 1:4 und 1:10 bei Kindergartenkindern. 68 Prozent aller Kita-Kinder in Deutschland werden in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entspricht. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten über 300.000 Fachkräfte zusätzlich eingestellt werden.

Der Personalmangel führt – bei vielfältiger und komplexer gewordenen gesellschaftlichen und pädagogischen Herausforderungen – zu einer sich selbst verstärkenden Spirale aus Überlastung, verminderter pädagogischer Qualität, krankheitsbedingten Ausfällen und letztlich zu Arbeitsplatz- bzw. Berufswechsel.

Aus Personalmangel kommt es zu gekürzten Öffnungszeiten, zu Notbetreuung und zur tageweisen oder sogar  kompletten Schließung von Kitas. Für Eltern sind Öffnungszeiten nicht mehr verlässlich planbar, was in der Folge dazu führen kann, dass beispielsweise Firmen ihre Aufträge nicht fristgerecht abarbeiten können oder Pflegefachkräfte Dienste im Alten- und Pflegeheim nicht zeitgerecht oder gar nicht antreten können. Unkalkulierbare Öffnungszeiten, aber vor allem fehlende Plätze in Kitas, mindern das Erwerbspotenzial von Eltern, insbesondere auch von Alleinerziehenden, und verursachen volkswirtschaftliche Kosten.

Hinter dem Anspruch frühkindlicher Bildung kommt eine Wirklichkeit zum Vorschein, in der nur noch reine Betreuung gewährleistet werden kann, in der an Sprachförderung oder die Förderung von benachteiligten Kindern gar nicht zu denken ist. Eine wachsende Zahl von Kindern, die nicht schulreif sind, ist dann das wenig überraschende Ergebnis.

Eine gute flächendeckende frühkindliche Bildung legt den Grundstein für den weiteren Bildungsweg der Kinder und ist zugleich eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Es bräuchte jährlich 13,8 Milliarden Euro, um die Kitas ordentlich auszustatten. Der damit einhergehende gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Nutzen wird aber offensichtlich nicht gesehen, denn Bund, Länder und Kommunen schieben sich gegenseitig die finanzielle Verantwortung zu und lassen jegliche gemeinsame Strategie vermissen. Der Bildungsföderalismus  funktioniert bei den Kitas und auch bei den Schulen nicht. Es herrscht Töpfchen- und Silo-Denken statt vernetztem Denken. Ein politisches Armutszeugnis!

Bei dem Übergang von der Kita in die Grundschule wird das unter den gegebenen Bedingungen Versäumte mitgeschleppt. Für viele Kinder sind dies keine guten Startvoraussetzungen für den Schulstart.

In der Grundschule, einer Schule für alle, sollen die Kinder grundlegende Kompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen erwerben. Die wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz hat nun allerdings alarmierende Befunde geliefert, Befunde, die sich mit der alle 5 Jahre durchgeführten Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) decken: Am Ende der 4. Klasse können 20 % nicht richtig lesen, zuhören und rechnen. 1 von 3 Kindern verfehlt die Mindeststandards in der Rechtschreibung und jedes 4. Kind zeigt ein erhöhtes Risiko für psychische Auffälligkeiten. Viertklässler schaffen es nicht, in einem Text relevante Informationen zu erkennen und diese miteinander in Beziehung zu setzen. Das hat Folgen: Wer längere Abschnitte nicht sinnerfassend lesen kann, wird sich auf der weiterführenden Schule schwer tun.

Seit 2016 ist die durchschnittliche Lesekompetenz von Viertklässlern stark gesunken, einen dokumentierten Abwärtstrend bei den grundlegenden Kompetenzen gibt es aber schon seit 2006. Es gibt allerdings große Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülerinnen und Schülern. Im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit hat sich in den letzten 15 Jahren praktisch nichts getan. Wie gut jemand abschneidet, hängt unverändert von der sozialen Herkunft und der Bildung der Eltern ab. Der Vergleich mit anderen Ländern macht deutlich, dass der Zusammenhang von Herkunft und schulischem Erfolg kein unausweichlicher Mechanismus sein muss.

In der Grundschule gelingt es nicht, allen Kindern die für den weiteren Bildungsweg notwendigen grundlegenden Kompetenzen zu vermitteln. Wenn die Grundschule aber so viele Kinder abhängt, erfüllt sie ihren Auftrag nicht. Als ein Grund für das systemische Versagen der Grundschule wird häufig die Pandemie angeführt, die viele Kinder in ihrer Entwicklung zurückgeworfen hat. Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen erklären jedoch nur einen Teil des Leistungsabfalls. Zu berücksichtigen sind vielmehr veränderte Rahmenbedingungen: Es gibt einen wachsenden Anteil von Schülern und Schülerinnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die zum Teil erst in der Grundschule mit der deutschen Sprache in Berührung kommen. Es gibt ferner einen gestiegenen Anteil von Kindern mit emotionalen und geistigen Problemen sowie mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten. Notwendig bei diesen Rahmenbedingungen wären mehr Lehrkräfte. Der Lehrkräftemangel verschärft daher die Krise noch  und führt dazu, dass monatelang Unterricht ausfällt, auch in wichtigen Fächern, so dass die Lernrückstände größer werden. Es fehlen in Deutschland Schätzungen zufolge – bezogen auf alle Schulformen – 60.000 Lehrerinnen und Lehrer; eine Zahl, die sich noch erhöhen wird, wenn im kommenden Jahrzehnt die Generation der Babyboomer in den Ruhestand geht. Wie angesichts dieser Entwicklung der Anspruch auf einen Ganztagsplatz in der Grundschule ab 2026 umgesetzt werden soll, bleibt ein Rätsel.

In Zeiten von Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel ist die Gesellschaft mehr denn je auf Nachwuchs mit guter Bildung angewiesen. Die Grundlagen dafür werden in der frühkindlichen Bildung und in de Grundschule gelegt. Mit einer ausreichenden Zahl gut ausgebildeter Lehrkräfte, Sozialpädagogen, Schulbegleiter etc. könnte man diesen Anforderungen begegnen, doch statt dessen nehmen Bund, Länder und Kommunen in Kauf, dass die Jüngsten zu Verlierern der Gesellschaft werden. Eine Gesellschaft offenbart sich nirgendwo deutlicher als in der Art und Weise, wie sie mit ihren Kindern umgeht, sagte Nelson Mandela. Das ist nicht nur ein moralisches Gebot, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit.

Die Versäumnisse in den Kitas und in den Grundschulen machen sich in den weiterführenden Schulen bemerkbar. In 2021 haben knapp 50.000 Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. Nur ein kleiner Teil davon schafft es, den Hauptschulabschluss später nachzuholen. Ein fehlender Hauptschulabschluss zeichnet angesichts immer komplexer werdender Anforderungen in der Arbeitswelt den weiteren Ausbildungs- und Berufsweg vor. Diese jungen Menschen bilden einen wesentlichen Teil der etwa 2,7 Millionen Zwanzig- bis Vierunddreißigjährigen, die weder eine Schule besuchen noch einen Ausbildungsabschluss vorweisen können, die nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben und zwischen schlechten Jobs und Bürgergeld pendeln.

Diese jungen Menschen stellen überdies ein Potenzial dar, das anfällig ist für populistische Parolen. Wie, bitte schön, soll sich denn eine Generation mit einem Viertel Leseunkundiger über Klimawandel und Zuwanderung verständigen?

Von den zahlreichen Großbaustellen im Bildungswesen dürfte der Lehrkräftemangel die größte Baustelle sein. Viele Lehrkräfte arbeiten an der Belastungsgrenze. Dadurch ist der Krankenstand gestiegen, was wiederum die Belastung der verbliebenen Lehrkräfte erhöht. Ein Teufelskreis. Einige haben Konsequenzen gezogen und den Schuldienst verlassen oder sind bereits während des Referendariats ausgestiegen.

Jedes Bundesland plant für sich, wie viele Lehrkräfte es braucht. Engpässe als Folge schlechter Planung und eines unzureichenden Mitteleinsatzes sind der Dauerzustand. So wird offen um Lehrkräfte aus anderen Bundesländern geworben, besonders aggressiv praktiziert das Bayern. Diese Ellbogenmentalität kann aber den bundesweiten Lehrkräftemangel nicht verdecken.

Um dem Unterrichtsausfall entgegen zu wirken, setzen die Bundesländer auf die Senkung der Einstellungsvoraussetzungen, so wie man es im Übrigen auch bei dem Kita-Personal anstrebt. Man stellt Seiten- und Quereinsteiger ein, um den Lehrkräftemangel notdürftig zu beheben und versucht auf diese Art und Weise Schadensbegrenzung zu betreiben zu Lasten der Qualität. Das Land Brandenburg beamtet sogar Lehrkräfte mit Bachelorabschluss und unterläuft damit die gemeinsamen Standards der Länder.

Um den Lehrkräftemangel in den Griff zu bekommen, gibt es keine einfachen und schnellen Lösungen. An vielen Stellen muss sich etwas bewegen und an vielen Stellschrauben und Schräubchen gedreht werden, an Schulen, an Universitäten, in den Kultusministerien.  Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass der Komplexität dieser Aufgabe das Scheitern schon eingeschrieben ist, zumal die Politik jegliches Engagement in der Sache vermissen lässt.

Die deutsche Bildungspolitik ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen; sie hat auf den Wandel von Kindheit und Familie in einer postindustriellen Gesellschaft bisher nicht adäquat reagiert. Notwendig wäre u.a. die Lehrpläne zu entrümpeln, die Inhalte entlang der gesellschaftlichen Erfordernisse zu aktualisieren, mehr Raum den aktuellen Krisen und Themen der Jugendlichen einzuräumen, die Lehramtsausbildung völlig neu zu konzipieren und deutlich mehr Geld für Investitionen zur Verfügung zu stellen. Denn das Schulsystem ist chronisch unterfinanziert. Das macht sich nicht nur am Lehrkräftemangel fest, auch an maroden Schulen, schleppend vorangehender Digitalisierung, fehlenden Sozialpädagogen, Psychologen, Therapeuten, IT-(Lehr)Kräften, einer zu Lasten der Schüler und Eltern gehenden Billigvariante von Inklusion etc.

Die Politik hat sich auf einen Sparmodus und einen faktischen Stillstand in der Steuerpolitik festgelegt; sie suggeriert den Bürgerinnen und Bürgern, dass es dazu keine Optionen gibt. Die FDP lehnt eine Mehrbelastung für Besserverdiener ab, selbst der Abbau umweltschädlicher Subventionen wird nicht angegangen, obgleich er Milliarden einbringen könnte. Erforderlich werden zudem steigende Ausgaben für die Verteidigung, den klimagerechten Umbau und die Digitalisierung des Landes. Das heißt: Die finanziellen Mittel sind knapp, das Bildungswesen hat keine Priorität.

Hinzu kommt eine erschreckende Trägheit und Gleichgültigkeit der Politik gegenüber dem Bildungswesen. Und Kurzsichtigkeit. Denn Politik plant in der Regel nicht über eine Legislaturperiode hinaus, weil den Erfolg ja die nächste Regierung ernten könnte. Die Weitsicht, dass Sparen im Bildungssektor zu Mehrausgaben in anderen Bereichen führt, fehlt den Entscheidungsträgern ebenso wie die Einsicht, dass die Leistungsfähigkeit des Bildungswesens eine Schlüsselrolle für die langfristige Daseinsvorsorge und den Wohlstand einer Gesellschaft einnimmt, dass eine funktionierende Wirtschaft gut qualifizierte Arbeitskräfte braucht und dass das Fundament einer Demokratie verlässliche Infrastrukturen bilden. Dazu gehört die Institution Schule.

„Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende“, forderte die Ministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger auf einem nationalen Bildungsgipfel im März 2023. Leider sagten fast alle Kultusminister das Treffen ab. Einzig greifbares Ergebnis war das Installieren einer „Taskforce Bildung“, die die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen koordinieren soll. Angesichts der Diagnose einer tiefen Bildungskrise und der Forderung nach einer Trendwende ein äußerst mageres Ergebnis. Mindestens ebenso enttäuschend ist die geplante Kürzung des Etats für das Bundesministerium von über einer Milliarde Euro. Das sagt einiges über die Durchsetzungsfähigkeit der Ministerin und den derzeitigen Stellenwert von Bildung.

Ganz anders agierte Georg Picht als er 1964 mit seiner Diagnose der „deutschen Bildungskatastrophe“ Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit aufschreckte. Mit dramatischen Worten begründete er den Bildungsnotstand: „Notstand des Bildungswesens heißt Notstand der Gesellschaft“. Picht kritisierte die ungerechte Verteilung der Bildungschancen sowie eine „Sozialauslese“ zulasten der Unterschichten. Er prangerte den Abiturientenmangel an, prognostizierte Nachteile Deutschlands im internationalen Wettbewerb und eine Gefährdung der Demokratie durch den Bildungsnotstand. Die Schärfe von Pichts Krisendiagnose verfehlte ihre Wirkung nicht. Die nachfolgende Bildungsexpansion und  Reformen im Bildungssystem, wie z.B. die Einführung von Gesamtschulen in Schulversuchen in den 1970er Jahren, werden ihm zugeschrieben.

Seine nächste Bildungskrise erlebte Deutschland mit dem PISA-Schock im Jahr 2000. Die Schulleistungsstudie PISA zeigte, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften unter dem OECD-Durchschnitt lagen. Die PISA-Ergebnisse zeigten auch, dass die Leistungen stark mit dem sozioökonomischen Hintergrund zusammenhingen. Auch Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund schnitten vergleichsweise schlecht ab. Der PISA-Schock sorgte für einen öffentlichen Aufschrei und löste eine bildungspolitische Debatte aus. In der Folge wurden einige Reformen umgesetzt, um das Bildungssystem zu verbessern. Dazu gehören die Einführung von Bildungsstandards, die Förderung von Ganztagsschulen und die Förderung von MINT-Fächern. In den ersten Jahren nach dem PISA-Schock trugen die Reformen Früchte und die deutschen Schülerinnen und Schüler verbesserten sich im Ranking der in einem dreijährigen Rhythmus durchgeführten PISA-Studien. Inzwischen ist die Reformdynamik erlahmt und Deutschland hat sich in der Mittelmäßigkeit eingerichtet. Die Studien werden nur noch routiniert zur Kenntnis genommen.

Einen dringlichen Appell zu handeln, begleitet von Protestaktionen, haben im September 2023 über 170 Organisationen unterzeichnet: „Bildungswende jetzt: 4 Forderungen für ein gerechtes und inklusives Bildungssystem, das auf die Zukunft vorbereitet!“ (www.bildungswende-jetzt.de) Mit diesem öffentlichen Weckruf wenden sie sich an den Bundeskanzler, die Bundesregierung, die Mitglieder des Bundestages, die Regierungschef*innen der Länder sowie die Mitglieder der Kultusministerkonferenz. Ob der Appell angesichts der zuvor skizzierten Rahmenbedingungen eine ähnliche Dynamik entfalten kann wie es Picht mit seiner Bildungskatastrophe gelungen ist oder wie der PISA-Schock sie ausgelöst hat, bleibt abzuwarten. Weitere Protestaktionen und -formen werden sicherlich erforderlich sein, um Druck auf die Politik auszuüben.

Kurz zusammengefasst hier die 4 Forderungen von „Bildungswende Jetzt“:

1. Sondervermögen Bildung und ausreichende Finanzierung

2. Ausbildungsoffensive für Lehrer*innen und Erzieher*innen

3. Schule zukunftsfähig und inklusiv machen

4. Echter Bildungsgipfel auf Augenhöhe

 

 

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