Am Ende – über veränderte Trauer- und Bestattungsformen

Wir alle wissen, dass wir sterben werden. Doch wir haben uns abgewöhnt, über den Tod zu sprechen. Dabei stirbt etwa alle 30 Sekunden irgendwo in Deutschland ein Mensch. Ständig trauern Tausende Menschen zur gleichen Zeit um einen ihrer Liebsten. Der Trauerprozess wird in der kollektiven Wahrnehmung allerdings als ein bloß temporäres Ereignis und als ein Ausnahmezustand verstanden, der möglichst schnell überwunden und abgeschlossen werden soll. Der Druck zum reibungslosen Funktionieren in einer Gesellschaft der Beschleunigung macht Trauer zu einer Störung ökonomischer und sozialer Routinen. In der Art und Weise, wie Menschen sterben und wie Menschen trauern, hat sich gerade in den letzten gut zwei Jahrzehnten ein enormer Wandel vollzogen.

In einer zunehmend individualisierten und säkularisierten Gesellschaft hat sich der Umgang mit Tod und Trauer verändert. Dies manifestiert sich nicht zuletzt in Zahlen. Nicht einmal die Hälfte der Deutschen sind noch Mitglied in einer der beiden großen Kirchen. Und viele von denen, die es noch sind, sind passive Mitglieder. An einem durchschnittlichen Sonntag besuchten vor Corona noch neun Prozent der Katholiken und drei Prozent der Protestanten einen Gottesdienst. Allein in 2021 haben ca. 359.300 Katholiken und 288.000 Protestanten den beiden Religionen den Rücken gekehrt. Es zeichnet sich künftig eine eher noch verstärkende Entwicklung ab, die den Einfluss der Kirchen auf das Verhalten nach einem Todesfall vermutlich noch weiter schwinden lässt.

Die Haltung zur eigenen Beerdigung hat sich ebenfalls erheblich gewandelt. Noch 1969 wählten nur zehn Prozent eine Feuerbestattung, 1993 waren es schon 33 Prozent und in 2022 sind es 75 Prozent. Die meisten entscheiden sich für Urnengräber auf Friedhöfen, weil sie preisgünstig, platzsparend und pflegeleicht sind. Eine aktuelle repräsentative Umfrage im Auftrag der Deutschen Presse Agentur zufolge wünschten sich 2022 lediglich 14 Prozent der Erwachsenen klassisch beerdigt zu werden. Zudem sprechen sich 54 Prozent dafür aus, dass es erlaubt werden sollte, Urnen zu Hause aufzubewahren.

Jahrhundertelang war hierzulande die einzig ehrenvolle Bestattungsform die Beerdigung in einem Sarg auf dem Friedhof. Erst vor 100 Jahren, ab den 1920ern, kam die Einäscherung wieder auf.  Dabei spielte die Angst vor Wirtschaftskrisen, Inflation und einer womöglich unwürdig ablaufenden Beisetzung eine Rolle. Seit 1963 toleriert die katholische Kirche die Feuerbestattung. Gesetzlich gleichgestellt mit der Erdbeisetzung wurde die Feuerbestattung schon früher, 1934 von den Nationalsozialisten. Traditionell verlangen Christentum, Judentum und Islam einen intakten Leib zu bestatten, damit im Jenseits Körper und Seele als Einheit weiterleben können. Feuerbestattungen haben mit einem anderen Menschenbild, mit einer gewissen Pragmatik und Fortschrittsgläubigkeit, vermutlich aber auch mit einer Abkehr vom Glauben an Auferstehung sowie an Himmel und Hölle zu tun, mit einer Abkehr von der Überzeugung , dass der Tod nur der Beginn eines anderen, eines besseren Lebens ist.

Nicht nur Erdbestattungen, sondern auch Reihengräber und Zwanzig-  oder Dreißigjahresverträge sind immer seltener gefragt. Auf den kommunalen und kirchlichen Friedhöfen  ist alles streng geregelt, von der Größe der Grabsteine  bis zur Bepflanzung der Grabstätten. Kirchen und Friedhofsverwaltungen tun sich, trotz Leerständen und Verlusten, schwer, sich von ihren Satzungen und überkommenen Normen zu lösen. Die traditionelle Friedhofs- und Begräbniskultur ist in die Krise geraten, weil sie auf den Wertewandel der Gesellschaft keine und wenn, nur zögerliche Antworten findet. Friedhöfe werden mit Regeln, Verpflichtungen und Verhaltenserwartungen verbunden; sie erzeugen Gefühle der Angepasstheit und sie erzeugen Konformitätsdruck. Da erscheinen alternative Formen als Ausweg. Immer mehr Menschen wünschen sich Bestattungsformen mit mehr Gestaltungsspielraum und die Bestatterszene reagiert auf entsprechende Nachfragen.

Für eine gelingende Trauerbewältigung sind an den Bedürfnissen von Betroffenen orientierte Bestattungsformen hilfreich; diese werden immer vielfältiger: Seit private Anbieter wie Friedwald oder Ruheforst die Baumbestattung eingeführt haben – wo biologisch abbaubare Urnen an den Wurzeln bereits existierender Bäume beigesetzt werden -, ist die Nachfrage nach Naturbestattungen enorm gestiegen. Einen anderen Weg können Menschen mit einer Verbindung zum Meer beschreiten. Ihnen bietet sich die Möglichkeit einer Seebestattung. Der Beisetzungsort bleibt über eine Seekarte mit Koordinaten nachvollziehbar. Neben Baum- und Seebestattungen gibt es z.B. Diamantbestattungen, Luftbestattungen, bei denen die Asche aus einem Flugzeug rieselt oder die bei Muslimen übliche sarglose Bestattung. Auch spezielle Wünsche, wie eine Beisetzung bei Mondschein oder eine Trauerfeier auf einem Flugplatz, weil der Verstorbene Pilot war, ermöglichen Bestattungsunternehmen.

Ein besonderes Konzept verbirgt sich hinter den „Tree-of-Life“-Bestattungen, bei denen aus der Asche eines Verstorbenen durch eine Vermengung mit „Spezialerde“ ein Gedenkbaum heranwächst, zu sehen als ein Zeichen für den Kreislauf des Lebens. Eine wieder noch andere Form der Bestattung sind Re-erdigungen. Der Leichnam wird hier nicht verbrannt, sondern kompostiert. Das zielt auf Nachhaltigkeit und dokumentiert in gewisser Weise ein ökologisches Bewusstsein.

Bei allen diesen doch sehr unterschiedlichen Bestattungsformen, ist es den meisten Menschen wichtig, an einem für sie bedeutsamen Ort beigesetzt zu werden. Denn wenn die Asche irgendwo verstreut wird, gibt es keinen Ort für die Trauer mehr, keinen Erinnerungsort für die Familie, keinen Ort, der Freunden und Kollegen zugänglich ist. Hingegen können Beisetzungsorte Erinnerungen an den Verstorbenen bewusst herbeiführen, denn Trauerarbeit ist zugleich Identitätsarbeit. Deswegen bleiben Orte für einen gelingenden Trauerprozess unentbehrlich. Rituale mit örtlichem Bezug sind auch in Zukunft von Bedeutung für die Trauerbewältigung; sie sind (auch) der Versuch, den Kontakt aufrechtzuerhalten, gerade auch dann, wenn Menschen etwas nachholen wollen, wofür sie zu Lebzeiten des Verstorbenen keine oder nicht ausreichend Gelegenheit hatten.

Mit der Pluralisierung der Bestattungsformen korrespondiert eine Vielfalt in der Trauerkultur. Im 19. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert war die Friedhofskultur geprägt von christlicher Motivik. Auch im Alltag begegnete man dem Tod ganz anders als heute. In einer Zeit, in der Familie und Bekannte unverzichtbar waren, in der man am selben Ort, manchmal auch im selben Haus wohnte, wurde es zwangsläufig zum Gemeinschaftserlebnis, wenn jemand starb. Alle nahmen sich Zeit für einen letzten Besuch am Totenbett, der Verstorbene wurde zu Hause aufgebahrt und Hinterbliebene trugen ein Jahr lang Schwarz. Jeder sollte sehen, dass hier jemand trauert.

Heute ist der Tod quasi ausgelagert. Dafür sind andere zuständig: Ärzte, Pfleger, Sanitäter, Bestatter. Wenn jemand stirbt, heißt es herzliches Beileid, stummes Nicken, vielleicht noch eine Umarmung. Der Pfarrer spricht ein paar Worte, Amen, das war’s, weiter geht’s. Der Tod eines einzelnen unterbricht nicht das soziale Leben.

Familien leben anders als früher. Der Familienverband, die Großfamilie zumal, ist seit geraumer Zeit in Auflösung begriffen. Familien leben verstreuter und disparater, sie sind kleiner geworden. Die Zahl jener Beerdigungen nimmt daher auch zu, bei denen keine Angehörigen  oder gerade mal zwei oder drei Verwandte oder Nachbarn zugegen sind. Singles machen heute einen großen Anteil unter den Haushalten aus; in größeren Städten lebt oft mehr als die Hälfte der Einwohner allein. Viele Menschen sterben auch allein. Vereinsamung ist zuweilen die Kehrseite der Individualisierung.

Gefragt nach der Idee für ihre eigene Beisetzungsfeier sagen 21 Prozent, sie wollten überhaupt keine Trauerfeier für sich, 59 Prozent wünschen sich eine Totenfeier im engsten Kreis bzw. eine kleine Leichenfeier. Nur 6 Prozent stellen sich ihren Abschied groß vor und nur einige wenige so groß wie möglich. In Traueranzeigen ist denn auch häufig zu lesen: „Die Beisetzung findet im engsten Kreis statt. Von Beileidsbekundungen am Grab bitten wir Abstand zu nehmen.“ Man will in der Trauer für sich sein.

Zugleich sind die Trauerfeiern individueller und „bunter“ geworden, denn das traditionelle Ritual „Glocken, Orgel, Pfarrer, Sarg“ passt nicht mehr für alle. Es gibt Beerdigungen auf denen so gut wie niemand Schwarz trägt, weil dies dem Wunsch des Verstorbenen entspricht oder weil es mancherorts inzwischen  einfach zur Gewohnheit geworden ist. Die Traueranzeigen und Danksagungen sind farbiger geworden und werden immer häufiger mit einem Bild des Verstorbenen versehen. Statt Orgel laufen die Lieblingslieder des Verstorbenen, von Shanties bis zu Rock und Pop, vom Band. Der professionelle Grabredner ersetzt den Pfarrer, die Urne, den Sarg. In dieser selbstbestimmten Gestaltung und der freien Handlungsentfaltung am Ort der Beisetzung liegt ein Stück Selbstermächtigung.

Omnipräsente Orte der Trauer und des Gedenkens sind heute das Internet und die sozialen Medien. So schildern beispielsweise digitale Serverplattformen in Podcasts und Videos, was beim Tod eines Verwandten oder Bekannten zu tun ist. Nicht selten kommen inzwischen Trauernde gezielt auf Plattformen zusammen und vernetzen sich untereinander oder Bestatter richten digitale Gedenk- und Trauerräume ein. Die Grenzen zwischen der analogen und der digitalen Welt beginnen zu zerfließen.

Trauer und Gedenken finden indes nicht nur am Grab oder im Internet statt. Menschen erschließen sich aktiv Orte, an denen sie trauern. Nach Unglücksfällen oder Verbrechen mit Todesopfern entstehen improvisierte Gedenkorte im öffentlichen Raum. Menschen stellen Kerzen auf, legen Blumen nieder. Manchmal bleiben diese Gedenkorte zeitlich begrenzt, manchmal entwickeln sie sich zu festen Orten der Zusammenkunft, manchmal erinnert ein Kreuz oder eine Gedenktafel an den Tod eines Menschen. Es sind Rituale, die sich immer wieder neu entwickeln. Trauerrituale sind tröstliche Wiederholungshandlungen. Sie reduzieren Ängste und bilden einen Rahmen der Halt geben soll, ob auf dem Friedhof, im Friedwald, im Internet oder an einer Straße. Alte und neue Praktiken existieren heute  nebeneinander und beeinflussen sich gegenseitig.

Trotz der vielfältigen Trauer- und Bestattungsformen finden die meisten Beisetzungen nach wie vor auf Friedhöfen statt. Sie sind gewachsene Orte der Trauer und der Erinnerung. Es gibt Friedhöfe mit normierten Grabstätten und Zwanzigjahresverträgen, wo Friedhofssatzungen den Umgang mit Tod und Trauer festlegen und es gibt Friedhöfe, vor allem in Großstädten, auf denen Lebenslinien von Familien nachvollzogen werden können und  (Heimat)Geschichte sichtbar wird; Friedhöfe, die sehenswerte Gedächtnislandschaften bilden, vielerorts mit denkmalgeschützter Substanz und die sich über Jahrhunderte zu Kulturräumen entwickelt haben. Die bekanntesten unter ihnen zählen zu  häufig besuchten Sehenswürdigkeiten, wie etwa Père Lachaise in Paris, Highgate in London, der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin oder der Südfriedhof in Leipzig.

Friedhöfe sind empfindliche Seismographen für gesellschaftliche und soziale Veränderungen. Wie eine Gesellschaft mit ihren Toten umgeht, ist Teil des gesamtkulturellen Selbstverständnisses. Eine auf Effizienz getrimmte, dem Wirtschaftlichkeitsprinzip anhängende  Gesellschaft, die den Tod verdrängt und ausgrenzt, möchte dem Tod keinen Platz im Leben einräumen.  Der Umgang mit Tod und Sterben sagt daher immer auch etwas über die Gesellschaft aus, darüber, wie sie zu Gemeinschaft, Identität und Zusammenhalt steht.

Friedhöfe sind aber nicht nur Orte der Trauer, sondern auch Orte der Wertschätzung des Lebens. Denn Trauer bedeutet in der Gegenwart die Vergangenheit zu würdigen und die Zukunft zu ermöglichen. Es gibt kein Leben ohne Abschiede und keine Lebendigkeit ohne die Erfahrung von Verlust und Wandel. Insofern liegt hier auch eine Chance für die Friedhofskultur. Wären Friedhöfe nicht geeignete Orte der Begegnung, Orte, an denen offene Dialoge über Tod, Sterben und Trauer stattfinden, wo die Wertschätzung des Lebens gepflegt wird und wo Führungen, organisierte Begegnungen und lebensbejahende Veranstaltungen stattfinden?

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.