Das Bundeskabinett hat das Bürgergeld auf den Weg gebracht. Es soll die Grundsicherung (Hartz IV) ablösen und ist in dieser Legislaturperiode neben Mindestlohn und Kindergrundsicherung das wichtigste sozialpolitische Vorhaben der Ampelkoalition. Der Gesetzentwurf steht nun im Bundestag zur Beratung an.
Anfang der 2000er galt Deutschland als kranker Mann Europas, die Wirtschaft schwächelte und die Zahl der Arbeitslosen näherte sich der 5 -Millionen -Marke. Bundeskanzler Gerhard Schröder reagierte im März 2003 in einer Regierungserklärung mit der Agenda 2010 darauf. Mit der Agenda verknüpfte Ziele waren die Ankurbelung der Wirtschaft, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung, die Stabilisierung des Arbeitsmarktes sowie der Umbau des Sozialstaats.
Die Hartz IV-Reformen stabilisierten den Arbeitsmarkt und trugen zur wirtschaftlichen Erholung der Bundesrepublik bei, waren ökonomisch ein Erfolg, allerdings war der Preis dafür der massive Ausbau des Niedriglohn- und Leiharbeitssektors. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II bedeutete für mehr als die Hälfte der Betroffenen Einkommenseinbußen und sozialen Abstieg. Wer arbeitslos wurde, fand sich schnell auf das Existenzminimum zurückgeworfen und musste zudem, unabhängig von der eigenen Qualifikation, jeden zumutbaren Job annehmen. Schröders Satz “ Es gibt kein Recht auf Faulheit“ und ähnliche Äußerungen taten ein Übriges, um den Druck auf die Arbeitslosen zu erhöhen und Sanktionen zu legitimieren; er führte nachvollziehbar auf der Seite der Leistungsbezieher und -bezieherinnen zu Kränkungen und Stigmatisierung. Das Vertrauen in den Sozialstaat wurde erheblich erschüttert. Die SPD, im Selbstbild die Partei der sozialen Gerechtigkeit, verlor an Glaubwürdigkeit. Für die Sozialdemokraten entwickelte sich die Agenda 2010 zu einem Trauma, das gleich einem Mühlstein, ihnen über die Jahre anhing.
Nun, fast 20 Jahre später, erfolgte mit dem Bürgergeld der Schwenk. Bürgergeld – das klingt freundlich, es klingt nach Gleichwertigkeit und Mündigkeit. Und in der Tat soll die Eingliederung auf Augenhöhe erfolgen; die Eingliederungsvereinbarung wird zur Teilhabevereinbarung; statt Kontrolle und Strafmaßnahmen soll es ein vertrauensvolles Miteinander und Motivationsanreize geben. Es kommt da ein anderes Menschenbild als bei der Agenda 2010 zum Vorschein, was in der Folge einen Kulturwandel in den Jobcentern erforderlich macht.
Wer künftig seine Arbeit verliert, ist mit dem Bürgergeld substantiell besser abgesichert; die Ängste vor sozialem Abstieg werden kleiner werden: Ersparnisse werden besser geschützt und Wohnkosten voll erstattet. Hinzu kommt die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs sowie die Abschwächung der Sanktionen. Die Änderungen betreffen knapp 5 Millionen Leistungsbezieher und -bezieherinnen sowie 405 Jobcenter mit fast 75.000 Beschäftigten.
Im Folgenden die wichtigsten Punkte des Gesetzentwurfs:
- Erhöhung der Regelsätze. Der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen soll ab 1. Januar 2023 von 449 Euro auf 502 Euro steigen. Künftig soll im Voraus statt im Nachhinein die Inflation bei der jährlichen Anpassung der Regelsätze berücksichtigt werden. Lebenspartner sollen 451 Euro (bisher 404), Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren 420 (bisher 376), 6 bis 13-jährige 348 Euro (bisher 311) und Kleinkinder bis 5 Jahre 318 Euro (bisher 285) erhalten.
Regelsatzerhöhungen bieten stets einen zuverlässigen Anlass für Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Sozialverbänden. So ließ der Aufschrei der Arbeitgeber angesichts der vorgesehenen Erhöhung der Hartz IV-Sätze nicht lange auf sich warten. Die Kritik: Bedarfsgemeinschaften dürfe man keineswegs so ausstatten, dass es sich nicht mehr lohne zu arbeiten. Das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat für die Süddeutsche Zeitung berechnet, wie groß der Unterschied zwischen der Grundsicherung und dem geplanten Bürgergeld tatsächlich ist, und zwar für drei verschiedene Haushaltstypen und drei unterschiedliche Einkommen. Das Ergebnis (unter Berücksichtigung der Anhebung des Mindestlohns): Der Abstand zu jemandem, der nicht arbeitet, bleibt gleich. Insofern erweist sich der Aufschrei der Arbeitgeber als altbekannte Litanei.
Die Sozialverbände verlangen ein armutsfestes Bürgergeld und eine deutliche Anhebung der Regelsätze. So fordert der Paritätische, mit der Begründung, die Steigerung bleibe hinter den Lebenshaltungskosten zurück, für einen alleinstehenden Erwachsenen 678 Euro und die Anpassung an die Lohn- und Preisspirale. Verwiesen wird auf die Entwertung der Grundsicherungsleistungen durch die Inflation und den Kaufkraftverlust bei beispielsweise um 15 bis 20 Prozent gestiegenen Lebensmittelpreisen. Die Befürchtung ist, dass Betroffene verstärkt auf die Tafeln angewiesen sind (derzeit 2 Millionen) oder in die Verschuldung getrieben werden. Unter diesen Bedingungen, so lässt sich feststellen, ist die geplante Erhöhung des Regelsatzes eindeutig zu gering. Was fehlt, ist ein Verfahren zur gerechten Herleitung der Regelsätze verbunden mit spürbaren jährlichen Verbesserungen. Eine Möglichkeit wäre, statt der einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung die unteren 30 Prozent für die Ermittlung der Regelsätze zu berücksichtigen.
- Schonfrist. Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher sollen in den ersten beiden Jahren in ihrer Wohnung bleiben können, auch wenn sie eigentlich zu groß ist. Ebenso werden während dieser zwei Jahre Ersparnisse bis 60.000 Euro nicht angerechnet, für jede weitere Person im Haushalt 30.000 Euro.
- Ersparnisse. Das auf Dauer gewährte Schonvermögen wird erhöht und die Überprüfung vereinfacht. Künftig bleiben Ersparnisse bis zu 15.000 Euro pro Person geschützt, bisher sind es 150 Euro pro Lebensjahr, d.h. bei einer 40-jährigen Person wären dies 6.000 Euro.
Der Bundesrechnungshof moniert, dass die Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld zwei Jahre lang in ihrer Wohnung bleiben dürfen, selbst wenn die Wohnung zu groß ist. In dieser Karenzzeit werden die Kosten für Miete und Heizung vom Staat übernommen. Der Rechnungshof empfiehlt eine deutlich kürzere Karenzzeit. Politisch strittig und nicht wirklich vermittelbar ist die Übernahme der vollen Heizkosten, denn da fehlt jeder Anreiz zum Einsparen. Die Empfehlung für eine kürzere Karenzzeit gilt auch für den Zeitraum von zwei Jahren, in dem Betroffene ihr Vermögen nicht antasten müssen, sofern es nicht den Betrag von 60.000 Euro übersteigt sowie von 30.000 Euro für jede weitere Person. Die Prüfer nennen einen Fall: So könne beispielsweise ein Ehepaar mit zwei Kindern trotz 150.000 Euro Spar- und Barvermögen, weiterem Vermögen, das der Altersvorsorge dient, zwei Kraftfahrzeugen und selbstgenutztem Wohneigentum Bürgergeld erhalten. Der Bundesrechnungshof hat Zweifel, ob das angemessen ist. Natürlich erscheint dieser Einzelfall zugespitzt und ein Stück weit realitätsfern, zumal das durchschnittliche Nettovermögen in deutschen Haushalten unter 60.000 Euro liegt und diese Fallkonstellation ohnehin auf nur ganz wenige besser situierte Leistungsberechtigte zutreffen dürfte. Die Zuspitzung macht aber deutlich, dass der Betrag für die während der Schonfrist nicht angerechneten Ersparnisse niedriger ausfallen sollte und es ist auch zu fragen, ob nicht eine Karenzzeit von einem Jahr ausreichend ist, um sich nach entstandener Arbeitslosigkeit neu zu sortieren. Interessant zu erfahren wäre, wie die Beträge und Zeiten im Gesetzentwurf entstanden sind und auf welchen Annahmen sie beruhen.
- Sanktionen. Im ersten halben Jahr des Bürgergeld-Bezugs soll es keine Sanktionen geben außer bei hartnäckigen Terminversäumnissen. Anschließend kann das Bürgergeld bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Die scharfen Sanktionen für Unter-25-jährige werden abgeschafft.
Der Verzicht auf Sanktionen in den ersten sechs Monaten soll dazu beitragen, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Jobvermittler und Bürgergeldbeziehenden entsteht. Ganz unproblematisch ist diese Regelung nicht, denn es ist wichtig, dass sich Arbeitslose schnell um eine Stelle oder eine Ausbildung bemühen. Je länger die Zeit der Arbeitslosigkeit andauert, desto schwieriger könnte die Eingliederung werden.
Sanktionen sind ein zentrales Element des Forderns. Ganz ohne Mitwirkung funktioniert auch das System Bürgergeld nicht. Selbst viele Hartz IV-Bezieherinnen und -bezieher, auf ihre Wert und Gerechtigkeitsorientierungen hin befragt, empfinden es offenbar als ungerecht, wenn andere, die sich nicht an die Regeln halten, ohne Strafe davonkämen.
Sanktioniert werden soll nur noch, wenn jemand immer wieder seine Termine versäumt oder sich gänzlich verweigert Arbeit aufzunehmen. In der Öffentlichkeit spielt das Thema Sanktionen eine große, den tatsächlichen Zahlen nicht angemessene Rolle. Denn es kommt nur in drei Prozent der Fälle zu Sanktionen, davon wiederum sind 70 bis 80 Prozent Terminversäumnisse. Man könnte meinen, angesichts dieser Prozentzahl seien Sanktionen fast schon zu vernachlässigen. Weit gefehlt. Denn das Bild des Arbeitsverweigerers, der sich allem entzieht, hält sich hartnäckig in der öffentlichen Meinung. Und das, obwohl viele Befragungen zeigen, dass die deutliche Mehrheit der Arbeitslosen sehr an Beschäftigung interessiert ist. 42 Prozent von ihnen schämen sich dafür, Hartz IV zu erhalten. Mehr als die Hälfte hat zudem das Gefühl nicht richtig zur Gesellschaft dazuzugehören. Über Arbeit finden die Leistungsberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft . Und die Mehrheit der Arbeitslosen weiß das.
- Jobvermittlung. Der bisherige Vermittlungsvorrang soll fallen. Leistungsbezieherinnen und -bezieher müssen nicht mehr jeden Job annehmen, sofern eine Aus- oder Weiterbildung sinnvoller scheint, um ihre Jobchancen zu verbessern. Es gibt ein monatliches Weiterbildungsgeld von 150 Euro und weitere Prämien für Abschlüsse.
Kern des Gesetzentwurfs an dieser Stelle ist eine deutliche Gewichtsverlagerung: Aus- und Weiterbildung werden gestärkt, statt auf Biegen und Brechen in Arbeit zu vermitteln, was nicht selten zu dem bekannten Drehtüreffekt führte. Abgeschafft wird daher der Vermittlungsvorrang, der dafür sorgte, dass Schulbildung, Berufsausbildung und berufsabschlussbezogene Weiterbildung hinter einer Arbeitsaufnahme zurückstanden. Ein Weiterbildungsgeld von 150 Euro monatlich soll einen Anreiz für Geringqualifizierte zum Einstieg in eine Ausbildung oder in eine modulare Qualifizierung schaffen, denn immerhin sind zwei Drittel der Leistungsbezieherinnen und -bezieher ohne Berufsausbildung. Prämienregelungen für den erfolgreichen Abschluss von Zwischen- und Abschlussprüfungen kommen hinzu. Der Ansatz ist klar: Über Geld Motivationsanreize setzen und in Abstimmung mit den Leistungsbeziehenden individuell passende Maßnahmen auswählen.
Es wäre aber eine Illusion anzunehmen, dass sich mithilfe des Potenzials der Arbeitslosen der Fachkräftemangel auch nur ansatzweise beheben ließe. Und dies nicht nur wegen der u.a. durch die Digitalisierung gestiegenen Anforderungen. Die Gruppe der Arbeitslosen ist äußerst heterogen und nicht ohne Grund gehört der Zugang zur Schuldner- und Suchtberatung zu den Leistungen der Grundsicherung. Gründe für den Leistungsbezug sind zum Beispiel: alleinerziehend, keine Kinderbetreuung, mangelnde Qualifikation, schlechte Deutschkenntnisse, zu alt, psychische Erkrankung oder andere gesundheitliche Beeinträchtigung, ohne Ausbildung, schwerbehindert. Es bedarf daher nach wie vor eines breiten Spektrums an Maßnahmen und Mitteln für die Integration in Arbeit. Qualifizierung ist dabei zweifellos ein zunehmend wichtiger Baustein.
- Hinzuverdienst. Wer oberhalb der Minijob Grenze bis zu 1.000 Euro hinzuverdient, soll 30 statt 20 Prozent der Einkünfte behalten können. Schüler und Schülerinnen, Studierende und Auszubildende können bis zu 520 Euro statt 100 Euro hinzuverdienen.
Mit dem Bürgergeld ist für Hartz IV-Bezieher und -Bezieherinnen eine wichtige Entlastungsmaßnahme auf den Weg gebracht. Der Gesetzentwurf enthält substantielle Verbesserungen ohne das bisherige System gänzlich zu kippen. Gleichwohl bleiben Kritikpunkte und weitere Verbesserungsmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten.
Reizthema bleiben die Regelsätze, die, wie der Zulauf zu den Tafeln zeigt, nicht armutsfest sind und die, durchaus bei Beachtung des Lohnabstandsgebots, höher anzusetzen sind, will man einen Teil der Bevölkerung nicht ständigen Existenzängsten aussetzen.
Ein Manko ist, dass es nach wie vor keinen Berufs- und Qualifikationsschutz gibt, der verhindert, dass Leistungsbeziehende jedes Jobangebot akzeptieren müssen, ganz egal, welche Ausbildung sie abgeschlossen und welchen Beruf sie ausgeübt haben. Auch müssen die Leistungsbeziehenden Jobs annehmen, die weder nach Tarif noch ortsüblich bezahlt werden. Trotz der im Gesetzentwurf vorgesehenen Aufwertung der Aus- und Weiterbildung riecht das sehr nach Niedriglohnsektor.
Derzeit erhalten 1,75 Millionen Kinder Hartz IV-Leistungen. Sie teilen mit ihren Eltern die finanziellen Einschränkungen, psychischen Belastungen und fehlende Teilhabe und gehören nicht in den Hartz IV-Bezug. Hier wäre der Umbau des Sozialstaats, etwa in Form einer Kindergrundsicherung, dringend geboten. Mehr als hilfreich wäre auch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, vordringlich in der Kinderbetreuung und im öffentlichen Nahverkehr. Allein dadurch würde ein Teil der Leistungsbeziehenden in die Lage versetzt, wieder Arbeit aufzunehmen.
Es bleibt abzuwarten, ob die Entlastungsmaßnahmen, wie die Abschwächung der Sanktionen, die Eingliederung auf Augenhöhe oder die Aufwertung der Aus- und Weiterbildung, die jeweils intendierten Wirkungen entfalten. Eine Evaluation nach fünf Jahren wäre nicht nur angebracht, sondern sollte im Gesetz festgeschrieben werden. Darüber hinaus bietet es sich an, weitere Aspekte des Bürgergeldes, gerade auch in Bezug zum Hartz IV-System, wissenschaftlich auszuleuchten.