Dresden hat 525.000 Einwohner und aktuell 1940 Flüchtlinge, das sind knapp 0,37 Prozent aller Dresdner. Mit der Zahl der Ausländer bzw. der noch geringeren Zahl der Muslime in Dresden, mit der Faktenlage also, lassen sich die Demonstrationen der Pegida, der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, nicht überzeugend erklären.
Michael Lühmann, in Leipzig geborener Politikwissenschaftler und Historiker, findet, dass die Pegida-Mischung, strammer Konservatismus plus extrem rechtes Gedankengut, typisch für die politische Tradition Sachsens sei. Denn nirgendwo in Deutschland sei die Ablehnung des Anderen tiefer in Kultur und Politik verankert als in diesem Bundesland. Und in der Tat: In einigen wenigen Städten, in denen Ableger von Pegida entstanden sind, gehen die Menschen zu Hunderten auf die Straße, in Dresden zu Tausenden.
Die Pegida-Demonstrationen treffen auf eine herumeiernde politische Klasse. Mit der Einstellung der Operation „Mare Nostrum“ hat Europa die Zugbrücke hochgezogen und die Einwanderung deutlich erschwert. Das deutsche Asylrecht pendelt zwischen Zuckerbrot und Peitsche. Eine kohärente, gesteuerte und administrierte Asyl- bzw. Einwanderungspolitik gibt es nicht. Debatten, wie etwa jene in Bayern geführte über eine Deutschpflicht für Zuwanderer in den eigenen vier Wänden, befördern ein vorurteilsbeladenes Klima. Das ständige Gerede über Ausländer, die bloß unsere Sozialsysteme ausnutzen wollen, obwohl längst durch Studien widerlegt, schürt Ressentiments. Eine politisch und gesellschaftlich wirklich fundierte Willkommenskultur existiert nicht, wohl aber, ausgelöst durch die mediale Berichterstattung und erschütternde Berichte über Einzelschicksale, mitfühlende Hilfsbereitschaft und bürgerschaftliches Engagement in Form von Nachbarschaftshilfen, kirchlichen und caritativen Initiativen, runden Tischen vor Ort etc.
Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde, wie in Dresden, zeigt, es geht nicht wirklich um die vermeintlich drohende Islamisierung. Der Islam wird hier als Popanz aufgebaut. Byung-Chul Han macht die Angst als eine treibende Kraft hinter den Pegida-Demonstranten aus: „Aus der lähmenden Angst, abgehängt zu werden oder nicht mehr dazuzugehören, befreien sich Menschen, indem sie einen imaginären Feind konstruieren. Pegida eröffnet solch einen imaginären Raum, in dem die Angst, die jeder für sich oder um sich hat, externalisiert wird und mit einem anderen Objekt, hier dem Islam, besetzt wird.“ Die Projektion auf den Islam entlastet die eigene Psyche, denn die Angst ist nun bekämpfbar, selbst wenn es sich um einen imaginären Feind handelt. Dadurch dass als Objekt des Zorns, der Wut und Enttäuschung ein Schwächerer gesucht, ausgegrenzt und ausgeschlossen wird, mit der Funktion des Sündenbocks, wird das Gefühl der Zugehörigkeit zum eigenen System (wieder)hergestellt. Allerdings, so Byung-Chul Han, „vom imaginären Feind führt kein Weg zur eigenen Gestalt, zur eigenen Identität.“ Die imaginierte Bedrohung führt dazu, dass die Ursache der Angst nicht erfasst und nicht verhandelt wird.
Unter der Oberfläche des selbstbewusst-saturierten deutschen Wohlstands sehen sich immer mehr Menschen mit Abstiegsängsten, Identitätskrisen und Anpassungsdruck konfrontiert. Heinz Bude diagnostiziert in seinem Essay, „Gesellschaft der Angst“, die Angst vor allem als etwas Atmosphärisches, eine Stimmung, eine bange Beklommenheit; sie macht sich als „Betriebsverfassung“ in unserer Gesellschaft schmerzhaft manifest. So richten sich die Pegida-Demonstrationen nicht nur gegen die vermeintlich drohende Islamisierung, sondern auch gegen die politischen und medialen Eliten, gegen „die“ Politik. Der Konsens mit dem Mainstream wird aufgekündigt, das Gespräch verweigert. Bei der übermächtigen großen Koalition finden sich die Demonstranten ebenso wenig wieder wie bei der Opposition. Da die FDP für die Bindung nationalliberaler Strömungen ausfällt, bleibt die AfD mit ihrer EU-feindlichen und rechtspopulistischen Haltung als ein mögliches Sprachrohr der Straße.
Das soziale Klima wird rauer und vielleicht auch aggressiver in einem Land, in dem Armut und Reichtum immer weiter auseinanderdriften. Im Jahr 2013 war jeder fünfte Einwohner Deutschlands von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Das sind 16,2 Millionen Menschen. Der Finanzkapitalismus, die Verselbständigung der Finanzwirtschaft zum alleinigen Zweck der Geldvermehrung, führt zu Unsicherheiten, Ängsten und gravierenden sozialen Ungerechtigkeiten.
Unter der bundesrepublikanischen Oberfläche brodelt es. Angstbesetzte Lebensweisen, Armut und Statuspanik verursachen sichtbare Blasen. Bei allen politischen und psychoanalytisch-gefärbten Deutungsversuchen ist das Phänomen Pegida in Gänze noch nicht greifbar. Ob es demnächst wieder verschwindet, ob sich eine Null-Toleranz-Auffassung gegenüber Pegida durchsetzt, ob Angst, Wut und Enttäuschung sich andere Kanäle suchen oder ob sich ein Dialog mit Pegida entwickelt, dies alles ist derzeit nicht ausgemacht.