10 Jahre Hartz IV – Bilanz einer umstrittenen Reform

Die Bilanz nach 10 Jahren Hartz IV fällt uneinheitlich und durchwachsen aus. Man kann das Hartz IV-Gesetz überwiegend als Erfolgsstory lesen, man kann es aber auch als Reinfall und Schikane per Gesetz bezeichnen. Die Wirkungen des Gesetzes sind in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft umstritten.

Die Sozialreformen mit dem Ziel, eine ganzheitliche Betreuung und eine bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen sowie eine Leistung aus einer Hand sicherzustellen, haben nicht allein, aber wesentlich dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Zur Erinnerung: In den 90ern entstand das Problem einer massiven strukturellen Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit stieg von 2.6 Millionen in 1991 auf 4.1 Millionen in  1999. Im Januar 2005, in dem das Hartz IV-Gesetz der Agenda 2010 in Kraft trat, waren es über 5 Millionen. Es bestand Handlungsbedarf.

Die Politik senkte die Spitzensteuer, entlastete Kapitalbesitzer, förderte die Privatisierung öffentlichen Besitzes, lockerte die Regeln am Arbeitsmarkt und führte die Ausgaben für Arbeitslose zurück. Die Leistungen für Arbeitssuchende gingen von 35.2 Milliarden € in 2005 auf 31.4 Milliarden € in 2014 zurück. Die Eingliederungsmittel wurden bei zurückgehender Zahl an Arbeitslosen von 6.6 Milliarden € in 2010 auf weniger als 4 Milliarden in 2014 gekürzt. Die Mittel für die Förderung von Arbeitslosen sind dabei wesentlich stärker gekürzt worden als die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Auf Kosten der Arbeitslosen wurde und wird hier gespart.

10 Jahre später sind in Deutschland mehr als 2 Millionen Menschen weniger arbeitslos. Schaut man auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und wie Deutschland heute in Europa dasteht, war die Agenda 2010 unbestreitbar ein Erfolg, auch wenn die gute Konjunktur vor und nach dem Abebben der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie weitere begünstigende Faktoren eine nicht unwichtige Rolle dabei gespielt haben.

Dagegen steht: Die Zahl derer, die im Niedriglohnsektor arbeiten, hat um 1.3 Millionen Menschen zugenommen, die Zahl der Leiharbeitskräfte hat sich verdreifacht, das Gesamtvolumen der Volkswirtschaft wurde jedoch nicht vermehrt, sondern nur anders verteilt. Der Druck auf Arbeitslose wurde durch Sanktionen und verschärfte Zumutbarkeitsregeln deutlich erhöht.

Der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge zieht denn auch in einem mit „Die Entdeckung der Armut“ überschriebenen Artikel eine vernichtende Bilanz: „Hartz IV hat in erheblichem Ausmaß zur sozialen Entrechtung, Entsicherung und Entwertung eines wachsenden Bevölkerungsteils beigetragen, der besonders in einer wirtschaftlichen Krisensituation als „unproduktiv“ und „unnütz“ gilt.“ An anderer Stelle spricht er von einem „totalitären Arbeitsmarkt- und Armutsregime“, das sämtliche Poren der Gesellschaft durchdringt.

Auch der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer kritisiert, dass Arbeitslosigkeit die Alltagsstruktur, den Status, den Respekt der anderen und damit das Selbstbewusstsein zerstört.

In dem Artikel „Das Mini-Minimum“ in der Süddeutschen Zeitung stellt Heribert Prantl einen anderen Punkt kritisch heraus: „Es bringt Elemente des Strafrechts ins Sozialrecht, es überwacht und betrachtet Millionen Menschen als potenzielle Faulpelze.“ Zu diesem Bild der Arbeitslosen in der Öffentlichkeit haben die Medien mit im Boulevard-Stil aufgemachten Fernsehberichten und Artikeln sowie mit Bezeichnungen wie „Drückeberger“, „Faulenzer“ oder „Sozialschmarotzer“  maßgeblich beigetragen. Es wurde der Eindruck des massenhaften Missbrauchs erweckt. Die Arbeitslosigkeit wurde auf diese Weise von einem Strukturproblem zu einem individuellen Problem umdefiniert. Prantl schreibt dazu: „Gewiss. Es gibt solche Missbraucher als kleine Minderheit der Leistungsempfänger. Das Gros aber kämpft um Arbeit, Anerkennung und den Respekt der Gesellschaft. Hartz IV macht ihnen das schwer: Es ist ein schikanöses Gesetz, das die Behörden zu Verwaltungsexzessen zwingt und die Lebensleistung auch der Menschen missachtet, die einen Großteil ihres Lebens gearbeitet haben und dann von Arbeitslosigkeit erwischt wurden. Sie alle werden von Hartz IV entmündigt.“

Heinrich Alt, Vizepräsident der Bundesagentur für Arbeit, sieht das schon berufsbedingt ganz anders. Er räumt zwar Mängel und Schwierigkeiten im Verwaltungshandeln sowie im organisatorischen Zuständigkeitsgerangel ein, insgesamt ist Hartz IV jedoch für ihn eine Erfolgsgeschichte. Den Erfolg bindet er auf der institutionellen Ebene an die Jobcenter: Sicherung des Lebensunterhalts von 6 Millionen Menschen und Vermittlung in Arbeit von Millionen von Arbeitslosen. Allerdings bleibt zu beachten, dass es seit 2005 über 100 Änderungsgesetze gegeben hat. Ausweis dafür, dass das SGB II handwerklich schlecht gemacht wurde, so dass häufig die Sozialgerichte die Auslegung übernehmen mussten. Dies führt natürlich auch zu einer  Erschütterung des Vertrauens in die Gesetzgebung.

Inzwischen wurde bei Hartz IV und in der Arbeitsmarktpolitik an mehreren politisch markanten Stellen nachgesteuert. Der Bezug von Arbeitslosengeld für ältere Beschäftigte wurde wieder verlängert. Das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) wurde eingeführt, um insbesondere die Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen zu verbessern und Kinderarmut zu lindern. Und zum 1. Januar 2015 wurde der allgemeine gesetzliche Mindestlohn eingeführt.

Natürlich gibt es weitere Forderungen und Reformvorschläge. Die Wohlfahrtsverbände fordern eine Erhöhung des Regelsatzes, der DGB plädiert u.a. für eine Verlängerung des Arbeitslosengeld I-Bezugs, für die Aufhebung der existenzgefährdenden Sanktionen, für höhere Weiterbildungsmittel und für ein Zurückdrängen der prekären Beschäftigung, die in der Folge Altersarmut bedeutet.  Helmut Hartmann stellt in seinen Thesen zur Zukunft des Jobcenters auf die Selbstbefähigung des Kunden ab und möchte Sanktionen nur, wenn angebotene Arbeit abgelehnt wird oder jemand unentschuldigt fehlt. Wohlmeinende Überlegungen und Empfehlungen zur Effektivität und Effizienz des Hartz IV-Gesetzes gibt es eine ganze Reihe und sie sollen hier keinesfalls geringgeschätzt werden. Allerdings unterscheiden sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen heute von denen vor 2005 und auch die Herausforderungen angesichts von Globalisierung, Technisierung, Digitalisierung und zurückgehender Arbeitslosigkeit sind andere.

Zu konstatieren ist, dass Jobs für Geringqualifizierte zunehmend wegfallen. Anzunehmen ist, dass der digitale Wandel weitere (Arbeitsplatz)Verlierer produzieren wird. Dem entgegenwirken lässt sich durch das vorgelagerte Bildungssystem, durch den Ausbau der frühkindlichen Bildung, durch Ganztagsbetreuung und durch die Sicherstellung von Schul- und Berufsabschlüssen, um zu verhindern, dass Menschen in Arbeitslosigkeit nachwachsen.

Der demographische Wandel führt zu einem Rückgang an Erwerbstätigen und zu einem bereits feststellbaren Mangel an Fachkräften. Gegensteuern, und damit Wohlstandseinbußen verhindern, lässt sich durch Zuwanderung und, mindestens teilweise, durch die Aktivierung des Reservoirs an Langzeitarbeitslosen. Dann müssten allerdings wesentlich mehr Mittel für langfristige Qualifizierungs- und Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Denn trotz der deutlich zurückgegangenen Arbeitslosenzahl sind immer noch mehr als 6 Millionen Menschen im Hartz IV-System und die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich verfestigt. Seit Jahren setzt die jeweilige Bundesregierung Akzente bei wechselnden Zielgruppen (Alleinerziehende, Migranten, Ältere, Langzeitarbeitslose), einen auf Nachhaltigkeit zielenden  Gesamtansatz sucht man vergebens. Strategien, wie der Passiv-Aktiv-Tausch, sind entweder vermeintlich nicht zu finanzieren oder, wie das bedingungslose Grundeinkommen, politisch höchst umstritten und nicht durchsetzbar. So wird es wohl bis auf weiteres bei einem Herumdoktern an den rechtlichen Grundlagen und an den Eingliederungsinstrumenten des SGB II bleiben. Gleichwohl muss Ziel sein, allen Erwerbsfähigen eine Beschäftigung anzubieten.

Die langfristige Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt führt nicht nur zu finanziellem Stress, der emotional, psychisch und gesundheitlich durchschlägt und gesellschaftliche Folgekosten verursacht; sie bedeutet zugleich den Verlust an Teilhabe und ein dauerhaftes Armutsrisiko. Die derzeit von der Realwirtschaft abgekoppelte, überbordende Finanzwirtschaft vertieft die Spaltung zwischen arm und reich. Sozialer und politischer Sprengstoff entsteht. Die Reformpolitik der Agenda 2010 mit dem Hartz IV-Gesetz hat zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft eine Verteilungsschieflage eingeleitet, sie sich jetzt durch die wieder auflebende Finanzkrise sowie durch Globalisierung und weitere technische Entwicklungsschübe verschärft. Angesichts der wachsenden Ungleichheit besteht die Herausforderung an den Sozialstaat darin, die Spreizung bei Einkommen und Vermögen zurückzufahren und für ein Mehr an Teilhabe und Bildungschancen zu sorgen. Insofern taugt im Kontext von Umverteilung und Teilhabe der Umgang mit Hartz IV als gesamtgesellschaftlicher seismographischer Indikator, mit dem zu beobachten ist, wohin das Pendel auf der Skala zwischen Gleichheit und Ungleichheit  schwingt.

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