Die Armutsdebatte – eine Glaubwürdigkeitsdebatte

Der Anstieg der Armutsquote auf 16,1 Prozent (2013: 15,5 Prozent), so wie er aus dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hervorgeht, hat zu einer hitzigen politischen Debatte geführt; einer Debatte, bei der es um Glaubwürdigkeit geht. Die Berechnungsgrundlage, mit der das Betroffensein von Armut gemessen wird, folgt einem EU-weiten Standard. Die Definition beschreibt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens, des Medians, erhält. Weniger als 60 Prozent des Medians sind bei einer Einzelperson aktuell laut Statistischem Bundesamt weniger als 892 Euro im Monat. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren wären dies weniger als 2058 Euro.

Andrea Nahles hat den Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kritisiert, attackiert die Berechnungsgrundlagen und will neu berechnen lassen, was Armut ist. Die Befürchtung nicht weniger ist, dass Armut und das soziale Auseinanderdriften in der Bundesrepublik einfach wegdefiniert werden sollen. Ganz unbegründet scheinen diese Befürchtungen nicht zu sein, schaut man auf die Arbeitslosenstatistik und deren immer wieder veränderte Methodik.

Die Definition von Arbeitslosigkeit ist politisch steuerbar, wovon die Politik auch regelmäßig über Rechtsänderungen Gebrauch macht. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der Vergangenheit mehrfach an der Arbeitslosenstatistik und an der Beschäftigtenstatistik geschraubt und sie „verschönert“. In der Arbeitslosenstatistik werden Teilnehmer an Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik nicht mitgezählt, ferner Arbeitslose, die am Tag der Erfassung krankgeschrieben waren, Personen in Kurzarbeit, Altersteilzeit und geförderter Selbständigkeit, Arbeitslose über 58 Jahre, die seit mehr als einem Jahr kein Jobangebot mehr erhalten haben, usw.  Die Beschäftigtenstatistik verändert man hingegen in die andere Richtung, indem beispielsweise Menschen in Werkstätten für Behinderte und Personen, die den Bundesfreiwilligendienst, ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr leisten, als beschäftigt gelten. Mit diesen statistischen Tricks schraubt man die Zahl der Erwerbstätigen nach oben und die Arbeitslosenquote nach unten.

Andererseits: Die Berechnung der Armutsquote hat auch Tücken. So werden fast alle Studenten und Auszubildenden von der Statistik erfasst, da sie unter der 60-Prozent-Schwelle liegen. Steigt die Zahl der Studenten, steigt auch die Armutsquote, wenigstens auf dem Papier. Die Aussagekraft des Armutsquotienten ist in der Vergangenheit, auch wegen anderer statistischer Unzulänglichkeiten, in Zweifel gezogen worden. Hinzu kommt,  die vielen Gesichter der Armut lassen sich nicht nur materiell erfassen. Der Human Development  Report der Vereinten Nationen berücksichtigt neben den Einkommensverhältnissen auch die Lebenserwartung, das Bildungsniveau und das Ausmaß der Teilhabe an der Gesellschaft. Die geltende Definition von Armut ist im Vergleich dazu eindimensional.

Sollte es Andrea Nahles im nächsten Armutsbericht der Bundesregierung gelingen, einen komplexeren Zugang zur Definition von Armut zu präsentieren, würde deutlich werden, dass die Bekämpfung der Armut nur auf der materiellen Ebene nicht ausreichend ist. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind allerdings geboten. Denn Fragen der Definition sind auch Machtfragen. Wer festlegt, welche Kriterien zugrunde gelegt werden und wie etwas gemessen oder erhoben wird, der bestimmt auch in nicht ganz unerheblichem Maß das Ergebnis mit. Andrea Nahles wäre also gut beraten, unabhängigen Experten, die   (Neu)Definition des Armutsbegriffs zu überlassen.

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