Europa im Zustand der Dauerkrise

Seit der Finanzkrise 2009 ist Europa merkbar krisengeschüttelt: Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, das Gezerre und Gewürge mit Griechenland, der Krieg in der Ukraine, die Konfrontation mit Russland, das britische Referendum über die Mitgliedschaft in der EU, der Konflikt des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán mit europäischen Gesetzen und Standards, etc.  All dies hat dazu beigetragen und trägt dazu bei, dass die EU in eine innere und nach außen sichtbare Legimitationskrise geschliddert ist.

Ein engeres Zusammenrücken in Europa ist dagegen in weite Ferne gerückt, eine weitere Übertragung nationaler Souveränität auf die europäische Ebene steht schon längst nicht mehr auf der Agenda. Die Nationalstaaten erstarken, Eigennutz triumphiert. Aber ohne eine Weiterentwicklung der EU, ohne verbesserte Sozialstandards, ohne eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, mithin ohne Lösungen bei drängenden Problemen, wird die Zustimmung für ein gemeinsames Europa in den Mitgliedstaaten weiter abnehmen und den Vormarsch der Rechtspopulisten begünstigen. Das europäische Projekt könnte zerfallen.

Die Gründe für die Erosion bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Die Flüchtlingskrise macht die unterschiedlichen nationalstaatlichen Interessen deutlich: Die Mittelmeerländer Italien und Griechenland stöhnen über den sie erdrückenden Flüchtlingsstrom, Ungarn will einen 4 Meter hohen und 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien bauen, Bulgarien schottet seine Außengrenzen ab, Österreich bearbeitet keine Asylanträge mehr, Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei wollen keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen, auf einen verbindlichen Verteilungsschlüssel für 40.000 Flüchtlinge angesichts von 500 Millionen Einwohnern kann man sich in der EU nicht verständigen. Ein humanes Europa, das ein Bewusstsein für Menschenrechte hat, sieht anders aus.

Der Konflikt mit Griechenland strapaziert die Gemeinschaft auf andere Weise. Während Irland, Portugal und Spanien sich der neoliberalen Reformlogik gebeugt und ihrer Bevölkerung harte Einschnitte zugemutet haben, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, scheint Griechenland auf die EU als eine Art Haftungsgemeinschaft zu setzen. Die meisten EU-Länder lehnen jedoch eine weitere finanzielle Unterstützung Griechenlands ohne entsprechende Gegenleistung ab. Politisch umstritten ist, ob ein Grexit den Fortbestand der EU gefährdet und einen Flächenbrand auslöst. Kann die EU und die Idee Europa im Fall Griechenland an den divergierenden wirtschaftlichen, politischen und nationalstaatlichen Interessen wirklich scheitern? Feststehen dürfte, dass das ritualisierte Dauerpokern um eine Lösung mit  Griechenland eine gravierende Belastung für Binnenklima und -struktur der EU darstellt.

Eine Erkenntnis ganz anderer Art über den Zustand der EU lässt sich aus der Nichtbeschäftigung mit der Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ablesen. Flüchtlinge finden sich in Ungarn in gefängnisähnlichen Einrichtungen wieder, unabhängige Medien werden gegängelt, Befugnisse des Verfassungsgerichts eingeschränkt, demokratische Gesetze und Standards ausgehöhlt bzw. ausgehebelt. Die EU lässt es geschehen. Wo bleibt das gemeinsame, fundamentale, demokratische Werteverständnis?

Die Krisen hängen untereinander zusammen und haben Auswirkungen auf das Binnengefüge der EU. Das Techtelmechtel von Tsipras mit Putin dürfte nicht nur bei den baltischen Ländern nicht besonders gut angekommen sein, wo immer noch starke Ängste gegenüber dem großen Nachbarn existieren. Wenn sich baltische und osteuropäische EU-Mitglieder gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aussprechen, lassen sie die Mittelmeerländer Griechenland und Italien im Stich und gefährden  ihrerseits eine EU-einheitliche Politik in der Ukraine-Krise und gegenüber Russland.

Ohne feste Regeln, ohne gemeinsame Werte, mit bröckelnder Solidarität und schwindendem  gegenseitigen Vertrauen ist zwar noch nicht gleich der Fortbestand der EU gefährdet, aber es droht zum Schaden aller der an Tempo zunehmende Rückfall in nationalstaatliche Egoismen. Europa muss sich dringend neu erfinden.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.