Es gibt in diesen Tagen kaum ein anderes Thema als die Frage, wie wir mit den zu uns kommenden Flüchtlingen umgehen wollen, in Deutschland, in Europa und darüber hinaus. Die vermeintliche oder tatsächliche Überforderung angesichts der nicht abebbenden Flüchtlingszahlen erzeugt einen Ausnahmezustand, der die Gesellschaft auseinandertreibt. Vieles läuft zur Zeit nebeneinander her; neben koordiniertem Vorgehen gibt es viel unkoordiniertes. Das Ganze haben wir weder logistisch-pragmatisch noch politisch im Griff. Die rasante Veränderung verunsichert und lässt bei vielen Menschen das Gefühl aufkommen, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, denn die Verhältnisse ändern sich schneller als die Regeln, die sie steuern. Zweifellos ist die derzeitige Flüchtlingswelle eine enorme Herausforderung für die gesamte Gesellschaft.
Rechtspopulisten und Rechtsradikale versuchen aus dieser Situation Kapital zu schlagen und vorhandene Ängste der Bevölkerung auszunutzen. Sie argumentieren mit der Überfremdung durch Muslime, mit dem Einsickern von Kriminellen und Salafisten, mit Sozialschmarotzertum zu Lasten der Sozialkassen, mit der fehlenden Qualifikation vieler Flüchtlinge und mit den aufzubringenden Milliardenbeträgen. Hier mischen sich Abstiegsängste und die Erfahrung von Ungleichheit mit massiven Ressentiments gegenüber Fremden. Dass diese Saat aufgeht, zeigen angezündete Asylbewerberunterkünfte, das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und radikalisierte Pegida-Demonstranten. Überfremdungsängste schlagen wahrnehmbar um in Gewalt und Gewaltbereitschaft, Ausländerfeindlichkeit in Rassismus, Ängste verbinden sich mit Gefühlen von Hass. Die Übergänge von Rechtsradikalen zu Rechtspopulisten erscheinen fließender, wobei die Gefahr des Rechtspopulismus darin besteht, dass seine Ideen in den Mainstream einsickern und in Teilen gesellschaftsfähig werden. Der Berliner Politik fehlt hierauf bisher eine differenzierte Antwort.
Auf der anderen Seite steht eine Willkommenskultur, an der viele ehrenamtlich engagierte ihren Anteil haben. Ohne diesen Beitrag der Zivilgesellschaft wäre die Flüchtlingswelle in Deutschland nicht zu wuppen. Im Landkreis Peine, beispielsweise, haben sich nach dem Einrichten eines Bürgertelefons innerhalb weniger Tage mehr als 300 Ehrenamtliche gemeldet, die ihre Hilfe angeboten haben. Diese Hilfsbereitschaft, die es an vielen Orten in Deutschland gibt, ist überwältigend.
Natürlich gibt es auch eine Reihe von rationalen Argumenten, die für die Integration der Flüchtlinge sprechen. Schon jetzt lösen die Flüchtlinge ein kleines Konjunkturprogramm aus. Wir brauchen aufgrund der starken Zuwanderung Tausende neuer Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter, ganz zu schweigen vom derzeitigen Bedarf an Containern, Betten, Hygieneartikeln etc. Ein Gewinn sind die Flüchtlinge unter dem Aspekt der demographischen Entwicklung. In Deutschland fehlen uns jährlich bis zu 300.000 Geburten, um einen Gleichstand an Zahl und Struktur der Bevölkerung zu halten. Auf lange Sicht brauchen wir mehr junge Menschen. Auch der Arbeitsmarkt profitiert, wenn es gelingt, die Flüchtlinge zügig zu qualifizieren und sie sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen. Das wird nicht ganz billig zu haben sein und Zeit beanspruchen. Um in diesem Kontext Ressentiments zu verhindern, müssen die Leistungen für Flüchtlinge aus zusätzlichen Mitteln finanziert werden, von denen in gleicher Weise, z.B. bei der Qualifizierung und im Wohnungsbau, diejenigen profitieren, die sich sozial abgehängt fühlen. Flüchtlinge dürfen nicht zum Anlass für Verteilungskonflikte werden, sonst ist der soziale Frieden bedroht.
Deutschland schwankt derzeit zwischen Großzügigkeit, zivilgesellschaftlichem Engagement und Vielfalt einerseits und Angst vor Überforderung, dem Streben nach Abgrenzung und völkisch motivierter Reinheit andererseits. Diese Polarisierung ist unübersehbar. Der politische Diskurs dazwischen fehlt. Es muss offen über die Chancen und Lasten der Migration gesprochen werden ebenso wie über die Einforderung demokratischer Spielregeln, wie Toleranz gegenüber anderen Religionen oder die Gleichberechtigung der Geschlechter. Nur über einen breit geführten gesellschaftlichen Diskurs lassen sich Ängste thematisieren, Menschen mitnehmen und lässt sich den Bürgern die Gewissheit vermitteln, dass unsere Gesellschaft diese Erschütterungen verkraftet. Andere Wege bergen eher das Risiko gesellschaftlicher Spaltung.
Zu den innerdeutschen Turbulenzen hinzu kommt, dass Europa sich in der Flüchtlingsthematik nicht einigen kann; Dublin III ist gescheitert, nationalstaatliche Egoismen und eine Politik der Abschottung, anschaulich dokumentiert durch die Errichtung von Grenzzäunen, dominieren. Dabei sind für alle Mitglieder der EU offene Grenzen schon aus ökonomischen Gründen eine Notwendigkeit. Europa droht an der Frage des Umgangs mit Flüchtlingen nicht nur als Wertegemeinschaft zu zerbrechen.
Auch über Europa hinaus verändert die Flüchtlingskrise alte Konfliktlinien und wirft neue Konfliktlinien auf. Stichwort Türkei, Stichwort Engagement in den Herkunftsregionen der Flüchtlinge, im Nahen Osten, in Afrika, in den Balkanländern. Neue Konstellationen, neue Allianzen und ganz andere Notwendigkeiten entstehen, politisch wie ökonomisch. Unser Blick auf die Welt verändert sich dadurch.
Die rasanten Veränderungen in der Welt und in unserer Gesellschaft erfordern von uns, flexibel auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren und uns an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Der Komplexität der Flüchtlingsthematik lässt sich nicht mit einfachen Lösungen begegnen. Psychisch erfordert das den Umgang mit Unsicherheiten und das Aushalten von Ambivalenzen; politisch das Denken in Etappen: Kriege eindämmen, Hilfsprogamme starten, die EU hinter einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik versammeln; gesellschaftlich heißt das, einen breit angelegten Diskurs zu führen und zügig ins Handeln zu kommen.
Die ortsnahe Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Kulturen und das Produktivmachen von Vielfalt bietet die Chance, uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln und als Individuen soziale und kulturelle Bereicherung zu erfahren. Ein großer nationaler Gewinn würde darin liegen, eine Herausforderung dieser Dimension bewältigt zu haben.