Laut Umfragen hat die SPD die CDU in der Wählergunst überholt. Zugeschrieben wird dies dem Schulz-Hype. Dabei galt Merkel bis in den Herbst 2016 hinein als alternativlos, genau wie ihre Politik.
Merkel war der Fels in der Brandung während der Finanzkrise und bei allen über Europa hinwegfegenden Stürmen. Sie war der Garant für Sicherheit und Zufriedenheit in einer unsicheren Welt; in der Forbes-Liste wurde sie über mehrere Jahre als mächtigste Frau der Welt geführt. Die durch Digitalisierung und Globalisierung ausgelösten gewaltigen weltweiten Umbrüche schienen in der Wahrnehmung vieler um Deutschland einen Bogen zu machen, dank einer unaufgeregt agierenden Kanzlerin, die auf eine Arbeitslosenzahl von unter 3 Millionen und auf die stärkste Volkswirtschaft in Europa verweisen konnte. Und die überzeugend den Eindruck vermittelte, sie halte das Unbill der ganzen Welt von Deutschland fern. Mit ihrem nüchternen Politik-Management erwarb sie sich Vertrauen im Inland. Harte ökonomische Interessen und systemische Ungleichheiten ließ sie hinter der Fassade der Alternativlosigkeit und des vernünftigen und moralischen Sprechens verschwinden und sedierte so die politischen Debatten. Ziel war, das Bestehende zu sichern. Dies gelang. Bis in die Tiefen der öffentlichen Verwaltung war bloßes Verwalten angesagt. Wirtschaftliche Erfolge machen mit der Zeit jedoch reformmüde und selbstgerecht gegenüber unter der Austeritätspolitik ächzenden Staaten wie Griechenland.
Unter der Firnis brodelt es dann auch heftig. Die Griechenlandkrise ist nicht behoben, die europäische Union steht auf ebenso wackligen Beinen wie der Flüchtlingsdeal mit Erdogan. Die Auswirkungen des Brexit sind noch nicht absehbar. Der entscheidende Einschnitt kam jedoch mit der Flüchtlingskrise. In Folge des Flüchtlingsstroms war der massive Einbruch in die wattierte bundesdeutsche Realität nicht mehr aufzuhalten. Die nicht mehr gewährleistete Kontrolle der Grenzen und damit das Versagen des Rechtsstaates sowie Terroranschläge verunsicherten das Land, der Aufschwung der AfD sorgte für Verschiebungen im politischen Spektrum und als Folge der Globalisierung wird Ungleichheit zu einem Megathema, befeuert durch geldgierige Manager auf der einen Seite und, teilweise AfD-affine, Enttäuschte und sozial Abgehängte. Noch zu erwähnen: Seehofer tat mit seinem Anti-Merkel-Kurs ein übriges.
Ist es nur ein Anti-Merkel-Effekt oder ist das Politikmodell Merkels nicht mehr mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen kompatibel? Gibt es die Lust auf einen neuen Aufbruch und wenn ja, wohin?
In dieser Situation bietet Matin Schulz für viele eine ideale Projektionsfläche. Er ist ein frisches Gesicht, verfügt über eine klare, die Menschen emotional erreichende Sprache und verkörpert durch seine Biographie das von ihm transportierte Thema Gerechtigkeit. Martin Schulz profitiert dabei gleich mehrfach: von der Sozialdemokratisierung der CDU und von der Zerrissenheit der CDU/CSU in der Flüchtlingsfrage; von einer breit getragenen Empörungswelle gegen die AfD, die nebenbei auch nützlich ist, jede unliebsame Kritik an bestehenden Verhältnissen abzuwehren. Mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldes I will Martin Schulz die Agenda 2010 wieder aufknüpfen und mit den Themen Rente und Erbschaftssteuer das Thema Gerechtigkeit bespielen. Dies alles sind Bausteine, aber es ist noch keine ernsthafte Agenda, die in eine überzeugende politische Erzählung eingebettet ist als Kennzeichen eines neuen Aufbruchs.
Verspricht Schulz nun das immer Gleiche, nur das etwas besser zu machen, mehr sozialstaatliche Leistungen, mehr Sicherheit durch mehr Polizei, mehr Teilhabe, mehr Gerechtigkeit? Oder findet er einen europäischen, sozialdemokratisch-vernetzten Weg, der dem Neo-Liberalismus die Zähne zieht und die Spaltung der Gesellschaft überwindet?
Und was für ein Verständnis von Arbeit hat eigentlich eine frühere Arbeiterpartei, wenn sich Arbeit durch technologische Entwicklungen rasant wandelt? Joe Kaeser und Timotheus Höttges propagieren angesichts des Vormarschs der Robotik schon mal das Grundeinkommen. Es ist die Frage danach, wie Zukunft künftig gestaltet werden kann. Oder mit einem Zitat von Albert Einstein: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“
Die Antworten der Politik darauf werden zeigen, ob Merkels Politikmodell in Zeiten heftiger gesellschaftlicher Umbrüche weiterhin tauglich ist. Oder eben nicht. Und was käme dann? Die Auseinandersetzung darüber steht erst am Anfang.