Kinderarmut: Prävention, Linderung, aber Lösung?

Der Landkreis Peine ist das Thema Kinderarmut gezielt 2009 mit einem Workshop des Jugendhilfeausschusses angegangen. Dazu wurde als auf dem Gebiet ausgewiesene  und bei den AWO-ISS-Studien federführend mitarbeitende Expertin Gerda Holz eingeladen. Schnell wurde deutlich, dass Armut von Kindern eine komplexe Herausforderung darstellt; denn Kinderarmut und soziale Ausgrenzung sind vielschichtig und haben viele Gesichter. Die Benachteiligung eines Kindes kann sich materiell äußern (Kleidung, Wohnung, Nahrung), sozial (soziale Kontakte, soziale Kompetenzen), gesundheitlich (physisch und psychisch) und kulturell (Sprache, Bildung, kognitive Entwicklung). Nicht selten ist die Lebenslage eines armutsbetroffenen Kindes durch multiple Deprivation gekennzeichnet. Plakativ heißt das: Arme Kinder sind weniger gesund, haben weniger Bildungschancen, können weniger an Kultur und Sport teilhaben, haben weniger soziale Kontakte, mehr Ängste, ein negatives Selbstbild und in der Selbsteinschätzung häufig eine negative Zukunftsperspektive.

Um das Wohlergehen von Mädchen und Jungen zu erfassen, bot es sich von der Methode her 2009 an, mit dem in anderen Bereichen der Verwaltung bereits erprobten Lebenslagenansatz zu arbeiten, sich an der Situation der Kinder und Jugendlichen in den Bereichen Materielles, Kulturelles, Soziales, Gesundheit zu orientieren und dabei die Sichtweise von Jungen  und Mädchen auf ihren Alltag zu berücksichtigen.

Der Workshop mit Gerda Holz war für die Verwaltung des Landkreises unter den Aspekten der Prävention und frühen Intervention auch Anlass, sich intensiv mit dem Dormagener Modell auseinanderzusetzen. Kinderarmut zu bekämpfen und Kinderschutz zu gewährleisten,  sind die übergreifenden Ziele des Dormagener Modelles. Die einschlägigen Akteure und Institutionen arbeiten dazu übergreifend, vernetzt und lebensphasenorientiert zusammen und bilden eine Präventionskette; sie besteht aus mehreren Bausteinen und Hilfen in den nachfolgend genannten Lebensphasen: Rund um die Geburt, Krippe, Kita, Grundschule, weiterführende Schule, Berufsausbildung. Hilfreich für die weitere Entwicklung im Landkreis Peine war, dass der Jugendhilfeausschuss 200.000,- Euro für den Aufbau der Präventionsketten bereitstellte.

Im Jahr 2012 legte die Jugendhilfeplanung den ersten Bericht zur Armutssituation von Kindern im Landkreis Peine vor. Der Bericht enthält Ausführungen zu den Risikogruppen sowie den Auswirkungen und Folgen von Armut und wertet die aus den SGB II-Leistungen, den Jugendhilfeleistungen (HzE) und den Schuleingangsuntersuchungen gewonnenen Daten aus. Über Interviews von betroffenen Eltern und Kindern ist deren Sichtweise mit in den Bericht eingeflossen, denn das Erkenntnisinteresse an dieser Stelle war, herauszufinden, wie Eltern und Kinder die eingeschränkte materielle Lebenslage wahrnehmen und über welche Handlungs- und Bewältigungsstrukturen sie verfügen. Dem Bericht vorausgegangen war ein partizipativer, breit angelegter Prozess mit zahlreichen Arbeitssitzungen mit relevanten Akteuren: Eltern, Schulen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Kitas, Jugendverbänden, Jugendpflege, Kinderschutzbund, Politik etc.

Die breite Beteiligung förderte breit geteilte Erkenntnisse und Einschätzungen: Die Prävention von armutsbetroffenen und armutsgefährdeten Kindern muss zwei Ebenen miteinander verknüpfen, die strukturelle Absicherung (armutsfeste Grundsicherung, Präventionsketten) und die individuelle Förderung bzw. Stärkung. Kinderarmut ist immer auch Elternarmut, insofern sind immer gleichzeitig auch die Eltern mit in den Blick zu nehmen  bzw. mit zu unterstützen. Dies ist unabdingbar, um ein Aufwachsen der Kinder im Wohlergehen zu ermöglichen und Teilhabechancen zu nutzen. Sozialpolitisch geht es bei allen Unterstützungsmaßnahmen damit auch um ein Stück Zukunftssicherung des Landkreises.

Dem Bericht zur Armutssituation von Kindern folgte 2013/14 die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen sowie der Beschluss des Jugendhilfeausschusses, ein Netzwerk „Kinderarmut“ einzurichten. Ferner gab der JHA die Erarbeitung von Leitlinien zur Prävention und zur Linderung der Folgen von Kinderarmut in Auftrag, die dann 2015 vom Kreistag beschlossen wurden. (Nachzulesen auf der Homepage des Landkreises). Dem vorausgegangen war wiederum ein partizipativer Prozess unter Beteiligung der einschlägigen Akteure. Koordination und Steuerung lagen beim Jugendamt, immer in enger Abstimmung mit dem Jugendhilfeausschuss.

Ebenfalls 2015 fand die 1. Armutskonferenz mit dem Schwerpunktthema „Essen für jedes Kind“ statt. Erfreuliches Ergebnis war, dass durch die Bürgerstiftung das Schulessen für jedes Kind gesichert werden konnte. 2016 fand die 2. Armutskonferenz mit dem Thema „Kinderarmut und Gesundheit“ statt. Ergebnisse waren u.a. die Qualifizierung von Reha-Übungsleitern durch den Kreissportbund sowie – angestoßen durch die Schuleingangsuntersuchungen – Bewegungsangebote für Kinder im Alter von 3 bis 8 Jahren in Sportvereinen, Kitas und Grundschulen.

2016 legte die Jugendhilfeplanung einen aktualisierten Bericht zur Armutssituation von Kindern im Landkreis Peine vor und 2018 soll die 3. Armutskonferenz mit dem Schwerpunkt „Bildungsarmut“ folgen.

Parallel zu dem Aufbau der Organisationsstrukturen erfolgte der Aufbau der Präventionsketten  und damit die praktische Umsetzung. Bei den Präventionsketten lag der Fokus über mehrere Jahre auf dem Ausbau der Frühen Hilfen; nicht zuletzt basierend auf dem volkswirtschaftlich überzeugenden, von der Gießener Professorin Ute Meier-Gräve formulierten Präventionsmantra: „Jeder Euro, der in frühe Hilfen investiert wird, spart 13 Euro im späteren Lebensverlauf ein“.

Um soziale Teilhabe sicherzustellen, soziale Benachteiligung durch präventive Maßnahmen auszugleichen  und aufgrund fehlender Ressourcen der Eltern auftretende Entwicklungsprobleme frühzeitig aufzufangen, ist es erforderlich, Kinder, Mütter und Familien dort zu erreichen, wo sie ohnehin in Kontakt zu Institutionen des Sozialsystems treten, also z.B. im Krankenhaus, in der Kinderarztpraxis, bei den Schuleingangsuntersuchungen, in den Kitas oder den Familienzentren. Zu den Kernangeboten der Frühen Hilfen gehören die Babybegrüßungspakete, häufig verknüpft mit Hausbesuchen, die Betreuung der Familien im ersten Lebensjahr durch Familienhebammen, Elternfrühstücke in unterschiedlichen Formaten, ein Mutterfrühstück (für ausländische Mütter), Ferienfreizeiten für armutsgefährdete Familien, Gruppenangebote für Teeny-Mütter sowie als infrastrukturelle Maßnahmen der Auf- und Ausbau von Familienzentren und Elterncafés in der Stadt und den Gemeinden. Um Sprachförderung und Persönlichkeitsentwicklung voranzubringen, gibt es Projekte wie Griffbereit und Rucksack, um Bindungsverhalten und Resilienz zu stärken Steep sowie weitere Projekte, die im Sinne von Schutzfaktoren für eine gute Entwicklung wirken  sollen. Über das Bündnis für Familien erfolgt mit über 20 ehrenamtlich tätigen Familienlotsen ein niedrigschwelliger Ansatz, der sich besonders an Alleinerziehende und armutsgefährdete Familien wendet. Die hier nur ansatzweise dargestellten Präventionsketten der Frühen Hilfen beruhen nicht nur auf einzelnen, nebeneinander stehenden Angeboten und Maßnahmen, sondern auf Netzwerken. Sie führen die Akteure zusammen, die an ähnlichen Themen und für gleiche Zielgruppen arbeiten. Zu dem Netzwerk Frühe Hilfen gehören weitere Netzwerke, wie beispielsweise ein Netzwerk der Familienzentren, ein Netzwerk „gesunde Kinder“ mit Krankenkassen, Kreissportbund und Kreisvolkshochschule und ein Netzwerk, in dem sich Klinikum, Gesundheitsamt und Kinderärzte treffen.

Es braucht diese Netzwerke und es braucht den weiteren zielgerichteten Ausbau der Frühen Hilfen. Und dies aus guten Gründen: Die statistische Lebenserwartung ist geringer, wenn ein Kind in eine arme Familie geboren wird  und es gibt in hohem Maße generationenübergreifende Armut, die daran erinnert, wie stark die soziale Herkunft den Lebensweg und das Denken bestimmt. Empfehlenswerte Lektüre in diesem Zusammenhang ist das Buch von Marco Maurer: „Du bleibst, was du bist“. Wie die Schuleingangsuntersuchungen  zeigen, sind armutsgefährdete Kinder schon bei Schuleintritt benachteiligt. Großen Einfluss auf die Sprachentwicklung hat die Bildung der Eltern. Bei Kindern aus bildungsfernen Haushalten werden nach Angaben des Gesundheitsamtes häufiger Sprachstörungen festgestellt als bei Kindern aus bildungsnahen Haushalten. Diese Diagnose lässt sich fortsetzen und betrifft ebenfalls   Motorik und Koordinationsfähigkeiten, Übergewicht, Impfschutz,  Teilnahme an sozialen und kulturellen Angeboten, was sich  anhand der (Peiner) Schuleingangsuntersuchungen prozentgenau belegen lässt.

In den weiterführenden Schulen verstärkt sich die Benachteiligung. Für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern besteht Chancengleichheit nicht wirklich, denn nach wie vor bestimmt die soziale Herkunft entscheidend den Bildungserfolg und die Berufschancen. Die kommunale Handlungsstrategie steuert mit dem Ausbau von Ganztagsschulen, dem Angebot von nachholenden Schulabschlüssen, der Bildungsqualifikation von sozial Benachteiligten (2. Chance), mit Case Managern und Sozialarbeitern an Schulen dagegen. In den letzten Jahren sind die Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen sowie der Übergang in den Beruf verstärkt in den Fokus geraten, und dies mit dem erklärten Anspruch, dass kein Schüler verloren gehen darf. Bildung begreift sich in diesem Kontext als präventive Sozialpolitik, denn geringe Bildung ist ein Treibsatz für Armut und sozialen Ausschluss, hingegen sind Schulabschlüsse und Ausbildung in aller Regel die Voraussetzung für ein auskömmliches Einkommen.

Die kommunal initiierten und getragenen Maßnahmen und Projekte werden ergänzt durch Aktivitäten von Stiftungen und Serviceclubs sowie durch vielfältiges bürgerschaftliches Engagement. Sie haben das Wohlergehen der Kinder , ihre Kompetenzstärkung und Persönlichkeitsentwicklung, zum Ziel und lindern dadurch die Folgen von Kinderarmut und Ausgrenzung. Lesepaten, Lernpaten, Familienlotsen oder Patenschaften für Flüchtlingsfamilien sind nur einige Beispiele für das Engagement im Ehrenamt. Bildungsbüro, Freiwilligenagentur und Wohlfahrtsverbände sorgen dafür, dass die Schnittstelle zwischen den professionell und den ehrenamtlich arbeitenden funktioniert und unterstützen mit entsprechenden Weiterbildungsangeboten. Ehrenamtlich und bürgerschaftlich engagierte Menschen halten mit ihrem Engagement die Gesellschaft zusammen, sie sind quasi der Kitt der Gesellschaft.

Die Ungleichheit der Chancen in unserer Gesellschaft können weder Ehrenamtliche noch Bildungseinrichtungen wirklich ausgleichen. Die Ursachen von Armut, prekärer Beschäftigung und sozialer Segregation müssen auf anderen Ebenen angegangen werden.  Schaut man sich die armutsgefährdeten Risikogruppen an, so sind dies Erwerbslose, Alleinerziehende, Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau, Familien mit drei und mehr Kindern sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Ein wichtiger Bestandteil der Bekämpfung der Kinderarmut ist daher die Bekämpfung der Einkommensarmut der Eltern. Die Rahmenbedingungen dafür setzt der Bund. Notwendig wäre ein armutsfester Mindestlohn und die Finanzierung von Arbeit statt Erwerbslosigkeit. Instrumente dafür stehen zur Verfügung.  Gute Arbeit zu schaffen geht nur über bessere Bildung und Qualifikation.

Monetäre Sozialleistungen müssen so ausgestaltet sein, dass Teilhabe gewährleistet ist und armutsgefährdete Kinder vor Ausgrenzung geschützt sind. Einmalige Bedarfe, wie ein Kinderfahrrad, gehören daher nicht in den Regelsatz und ein mit 100 Euro dotiertes Schulbedarfspaket ist nicht ausreichend, wenn bei der Einschulung ein Erstklässler eine Grundausstattung für über 300 Euro benötigt. Die Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket reichen nicht für die Teilnahme an sportlichen Aktivitäten und musischer Bildung. Wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, erhält jeder dritte Jugendliche aus Haushalten mit mehr als 30.000,- Euro Jahresnettoeinkommen bezahlten Musikunterricht, bei Haushalten mit niedrigem Einkommen und Bildungsstatus ist es nicht einmal jeder zwölfte Jugendliche. Daraus folgt: Die BuT-Leistungen sind viel zu gering bemessen und müssen merklich aufgestockt werden.

Von einigen Parteien wird ein höheres Kindergeld und ein Kindergeldzuschlag in die Diskussion gebracht. Mehr Kindergeld für alle funktioniert allerdings nach dem Gießkannenprinzip. Bei den Reichen geht es unter und bei den Armen könnte es mehr sein. Von Steuerfreibeträgen profitieren vor allem  Gutverdiener, die finanziellen Unterschiede zwischen oben und unten vergrößern sich dadurch noch. Neu sind  Überlegungen, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Der Niedersächsische Landtag hat dazu einen Entschließungsantrag auf den Weg gebracht und versucht, die Kindergrundsicherung auf Bundesebene zu etablieren. Dafür soll das bürokratieaufwendige Bildungs- und Teilhabepaket abgeschafft werden, dessen Charme ja gerade darin besteht, dass die gezahlten Sachleistungen den Kindern zugute kommen, während bei Geldleistungen nicht zu gewährleisten ist, dass sie nicht für Konsumausgaben der Eltern verwendet werden. Größere Wirkungen versprechen infrastrukturelle Maßnahmen. Armen Familien helfen  gebührenfreie Kitaplätze (auch wenn sie jetzt schon von der Sozialstaffel profitieren), Ganztagsangebote, um die Chancen der Kinder auf Teilhabe zu verbessern,  ferner mehr Personal und zusätzliche Ressourcenausstattung in Kitas und Schulen, die in sozialen Brennpunkten liegen, um den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg zu durchbrechen.

Die bisherigen Anstrengungen, Kinderarmut zu bekämpfen,  haben nicht ausgereicht, um die Armutsquote zu senken, obwohl die Arbeitslosigkeit derzeit niedrig ist und die Konjunktur brummt. Die Bezieher mittlerer und niedriger Einkommen haben vom Wirtschaftswachstum nicht profitiert. 2015 waren die realen Bruttolöhne der unteren 40% auf der Lohnskala niedriger als 1995. Hingegen haben die oberen 60% Zuwächse verbucht. Die Schere bei den Löhnen geht auseinander. Nimmt man die Globalisierung und die Digitalisierung als weiterhin treibende Kräfte der Wirtschaft hinzu, dürfte die Schere künftig noch mehr  auseinander gehen.  Armut und Ausgrenzung haben ein Ausmaß erreicht, das den sozialen Zusammenhalt zu gefährden droht. Der Bund hat mit den Regelsätzen im SGB II, den BuT-Leistungen, dem Unterhaltsvorschuss (ein Fortschritt ist hier die Verlängerung bis zum 18. Lebensjahr ), den diversen Leistungen für Familien, den Steuern und vielen ökonomischen Anreiz-, Be- und Entlastungsmaßnahmen durchaus massive Steuerungsmöglichkeiten in der Hand, um entscheidend etwas gegen Kinder – und Einkommensarmut zu unternehmen. Unter diesen Rahmenbedingungen kommt die kommunale Handlungsstrategie zum Tragen, die einen wichtigen Part bei der Bekämpfung der Kinderarmut einnimmt. Die komplexen Herausforderungen von Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung lassen sich auf kommunaler Ebene am besten mit guter Wirtschafts-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik angehen. Leicht gesagt, weil die Komplexität der Herausforderungen hier  mit zunehmender Komplexität beantwortet wird. Ins Praktische gewendet heißt das: Es bleibt das zähe Geschäft des reformerischen Alltags.

 

 

 

 

 

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