Das drängende und dringlich zu behandelnde Thema Pflege wäre gänzlich an der Politik vorbeigegangen, wenn nicht auf den letzten Metern des Bundestagswahlkampfs der angehende Krankenpfleger Alexander Jorde in der ARD-Wahlarena gegenüber Bundeskanzlerin Angela Merkel Frust abgelassen hätte. Er stellte fest, dass die Würde der Alten und Kranken jeden Tag verletzt werde, weil es in Kliniken und Pflegeheimen am nötigen Personal fehle. So lägen die Patienten teils stundenlang in ihren eigenen Ausscheidungen. Die Pfleger seien überlastet und für zu viele Patienten zuständig.
In der Kranken- und Altenpflege gibt es sicherlich jeweils unterschiedliche Gründe für den Personalmangel. Fakt ist jedoch der chronische Personalmangel in beiden Pflegebereichen. Derzeit gibt es in Deutschland 10.000 Stellen, die an Kliniken und 20.000 Stellen, die in der Altenpflege nicht besetzt werden können. Und da die Menschen immer älter werden und länger leben, nimmt die Pflegebedürftigkeit zu. Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wird von gut 2.6 Millionen in 2016 auf 3.5 Millionen in 2030 und auf rund 4.5 Millionen bis zum Jahr 2050 steigen. Im Jahr 2030 würden dann etwa 400.000 Pflegekräfte fehlen, im Landkreis Peine wären es etwa 1.000 bis zum Jahr 2030. Die Prognose impliziert, dass, wie derzeit, zwei Drittel der Pflegebedürftigen durch Angehörige (45%) oder einen Pflegedienst (21%) zu Hause betreut werden. Ein Pflegenotstand dieser Größenordnung stellt bereits jetzt und umso mehr für die Zukunft eine enorme Herausforderung für die kommunale Infrastruktur und Daseinsvorsorge dar.
Die Klagen aus dem Pflegeberuf sind seit Jahren bekannt und lassen sich kompakt so zusammenfassen: Pflege ist ein körperlich anstrengender und psychisch belastender Job mit wenig Anerkennung bei niedriger Bezahlung. Die Folgerung daraus: Der Pflegeberuf muss attraktiver werden. Es gibt durchaus mögliche Stellschrauben, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen und um die beschriebene und die prognostizierte Situation des Pflegenotstands zu verbessern. Dazu kursieren eine Reihe berechtigter Vorschläge aus unterschiedlichen Lagern und von unterschiedlichen Interessengruppen: mehr Geld, besonders in der Altenhilfe, mehr Ausbildungsplätze, mehr öffentlichkeitswirksame Werbung, eine Mindestpersonalausstattung, Anwerbung von Pflegekräften durch gezielte Einwanderung (setzt ein Einwanderungsgesetz voraus), Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den Einrichtungen, nur um die gängigsten zu nennen. Politische Konzepte dazu? Fehlanzeige.
Im Folgenden sollen unter der Perspektive Professionalisierung und Prestige des Pflegeberufs zwei Aspekte etwas näher beleuchtet werden: Ausbildung und Technisierung. Von der gerade beschlossenen Zusammenlegung der Pflegeausbildungen, die einen Berufswechsel zwischen Alten- und Krankenpflege erleichtert, erhofft sich die Politik , dass der Druck auf die Arbeitgeber zunimmt, angemessene Löhne zu zahlen. Ein höherwertiges Berufsbild und damit verbunden eine bessere Bezahlung würde auch durch eine akademische Ausbildung entstehen. Denn für Berufsbilder gilt ganz allgemein: Je höher die notwendige Bildung, desto höher das Prestige. Pflegestudiengänge sind zwar nicht das Allheilmittel für das Berufsprestige der Pfleger, würden sich aber bei der Wertschätzung und in der Vergütung auswirken. Eine vollständige Akademisierung ist hingegen nicht anzustreben, weil nicht Menschen, die den Anforderungen der Pflege gut gewachsen sind, vom Pflegeberuf ausgeschlossen werden sollen.
Attraktivität des Berufs und Bezahlung bedingen sich gegenseitig. Dies gilt in besonderer Weise und wird offensichtlich, wenn es darum geht, mehr Männer für den Beruf zu gewinnen. Im privaten Umfeld sind immerhin ein Viertel der Pflegenden Männer. In der professionellen Pflege müssen dazu allerdings Vorurteile abgebaut, Rollenbilder und Geschlechterstereotypen überdacht werden. Und dies ist bekanntlich ein längerer gesellschaftlicher Prozess.
Hoffnungen, der Personalnot zu begegnen, wecken die Fortschritte der Robotik. Wie weit Roboter dem Pflegekräftemangel abhelfen können, wird derzeit auf Kongressen, aber auch in der Praxis, lebhaft diskutiert. Auf längere Sicht wird man schon zur Erleichterung des Arbeitsalltags und um die körperliche Belastung zu senken, vermehrt technische Unterstützungssysteme einsetzen. Am Stuttgarter Fraunhofer-Institut wurde beispielsweise der Pflegeroboter Care-O-bot 3 entwickelt. Er kann alten Menschen in Pflegeheimen Getränke holen – und dabei für jeden Patienten ein individuelles Trinkprotokoll erstellen und damit einer Dehydrierung vorbeugen. Ein Münchner Unternehmen entwickelt ein Robotersystem , das Patienten auf der Intensivstation bei der Frühmobilisierung hilft. Manuelle Frühmobilisierung ist sehr kostenintensiv, da bis zu drei zusätzliche Pflegekräfte benötigt werden. Das System kann also beim Personalaufwand sparen. Führend bei der Entwicklung von Pflegerobotern ist im Übrigen Japan. Aber warum sollte nicht künftig auch bei uns neben der Pflegekraft ein kleiner Roboter mit ins Zimmer rollen, der Getränke anreicht und den Patienten neu bettet? Der technische Fortschritt ermöglicht es Alten- und Krankenpflegern wieder mehr am Menschen zu arbeiten und mehr Zeit für ihre Patienten zu haben. Paradoxerweise führt die Erleichterung im Arbeitsalltag zu mehr Anerkennung und besserer Bezahlung.
Stellschrauben, um gegen den Pflegenotstand anzugehen, gibt es also. Die Zeit des Aussitzens war mal.