„Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“, dieser Ausruf des Ablasspredigers Johann Tetzel dürfte allgemein ziemlich geläufig sein. Die Ablassbriefe sollten den Gläubigen die Zeit im Fegefeuer verkürzen. Ganz weltlich pragmatisch dienten die Einnahmen Papst Leo X zum Bau des Petersdoms und Hohenzollernprinz Albrecht von Brandenburg zur Schuldentilgung. Der Ablasshandel, der nicht nur bei Luther tiefstes Unbehagen auslöste, war Triebfeder für seine 95 Thesen. Sein Aufbegehren gegen eine als verkommen empfundene Kirche war nicht auf den Bruch mit dem Papst und der katholischen Kirche angelegt; Luther wollte eine innerkirchliche Diskussion in Gang setzen. Doch es kam anders. Bauernkriege, Kirchenspaltung und Reformation folgten. Die Reformation veränderte die Art, wie Christen glaubten, ihr Seelenheil erlangen zu können; sie ist untrennbar mit dem Namen Martin Luthers verknüpft. Die Spuren seines Wirkens ragen bis in die Gegenwart. Anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums Grund genug, nicht einer Erinnerungskultur zu verfallen, sondern nach den Wirkungen seiner Thesen und seiner Aktualität zu fragen.
Von Luther stammen kirchliche Evergreens , wie „Ein feste Burg ist unser Gott“ oder „Vom Himmel hoch da komm ich her“, aber auch bildreiche Redewendungen, wie „Perlen vor die Säue werfen“ und „wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ oder „die Zähne zusammenbeißen“, „im Dunkeln tappen“, „auf Sand bauen“. In seiner Bibelübersetzung ins Neu-Hochdeutsche hat Luther neue, plastisch-anschauliche Wörter erfunden, weil er wollte, dass viele Menschen die christlichen Texte verstehen; es war ihm ein Anliegen, dass jeder Christ die Bibel selber lesen können sollte. Protestantische Territorien haben daher früh Volksschulen gefördert und damit Bildungspolitik betrieben. In der Folge wurde 1717 in Preußen die Schulpflicht eingeführt. Friedrich Wilhelm I glaubte – historisch nicht unbegründet -, dass die Schule für gute Christen und somit auch für gute Untertanen sorgen würde.
Luther und seine Mitstreiter profitierten enorm vom aufkommenden Buchdruck, von der Schaffung und Verbreitung von Informationen, frei von Kontrolle durch Kirche und Obrigkeit. Über Reden, Predigten, Flugschriften, unterstützt durch die Cranach’sche Bildpropaganda (Luther wurde mehr als 130mal von den Cranachs porträtiert), stellten sie eine reformatorische Öffentlichkeit her, gegen die die Papstkirche nicht ankam. Die Verbreitung der reformatorischen Theologie ist ohne die damalige Medienrevolution nicht zu denken und eine Bildungspolitik wäre ohne die entsprechenden Medien gar nicht möglich gewesen. Alphabetisierung, Buchdruck und „neue Medien“ bargen den Keim des Mündigmachens und der Demokratisierung in sich.
Luther bezog seine These von der Freiheit des Christenmenschen jedoch nicht auf das Diesseits; er meinte mit Freiheit die Freiheit des Menschen, der von seinen Sünden erlöst wird. Den Führungsanspruch der weltlichen Herrscher stellte er nicht in Frage. Ganz anders die Bauern. Sie legten den Satz: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“, weltlich aus und zogen in den Krieg gegen den Adel. Sie forderten mehr Rechte und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Die Bauernkriege endeten 1526 in einem blutigen Fiasko. Die Leibeigenschaft wurde erst 1807 in Preußen abgeschafft.
Die Reformation zerstört das Monopol der katholischen Kirche nicht nur in Glaubensfragen, sondern auch materiell; sie lieferte den weltlichen Herrschern eine religiöse Legitimation ihrer Macht und führte zu einer Umverteilung des Reichtums. Zweifellos auch ein Grund, weshalb Luthers Thesen bei den Fürsten Widerhall fanden. Ab 1520 wurden in protestantischen Gegenden massiv Klöster geschlossen, deren Ländereien sich die Fürsten aneigneten. Als weiterer Indikator der Machtverschiebung gilt die Bautätigkeit. In protestantischen Gegenden nahm die Zahl der neu gebauten Kirchen deutlich ab, gleichzeitig wuchs die Zahl der weltlichen Bauten, wie Markthallen und Verwaltungsgebäude. Die Säkularisierung wurde also nicht zum Wohle des Volkes, etwa durch den Bau von Kranken- oder Armenhäuser, vorangetrieben, sondern Treiber des Baubooms waren neben den weltlichen Bauten vor allem Paläste, also Gebäude, die die vergrößerte Macht der weltlichen Autoritäten reflektierten.
Luther stellt sich in den Bauernkriegen in den Dienst der Fürstenbelange. Er wettert „wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern“. Weltliche Ordnung ist für Luther gottgegeben, Obrigkeitshörigkeit Teil seines Weltbildes. Der Pakt mit der Obrigkeit hängt seit dem am Protestantismus. Und zu den Nebenfolgen der Reformation in Deutschland gehört die Staatsnähe der evangelischen Kirche.
Anders als Luther entwickelte Johannes Calvin, quasi Reformator der zweiten Generation, weltlichen Gestaltungsdrang. Er hatte klare Vorstellungen, wie ein gläubiges Leben auszusehen hat. Dazu gehören auch sichtbare Früchte des Glaubens wie der wirtschaftliche Erfolg. In den Himmel kommt man durch harte Arbeit und Selbstdisziplin. Fromm, ehrlich, fleißig, unter Verzicht auf Vergnügungen und Luxus, das sind die geforderten Tugenden, die einer Lebensführung nach Gottes Willen entsprechen. Der Soziologe Max Weber singt in seinen zwei Schriften „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ 1904 und 1905 ein Loblied auf den Calvinismus. Verkürzt dargestellt: Protestantismus schafft Wirtschaftskraft. Wissenschaftlich lässt sich der Zusammenhang zwischen besserer ökonomischer Entwicklung und Protestantismus im Vergleich zu katholischen Gegenden allerdings nicht nachweisen. Doch wer zweifelt daran, dass eine Melange aus protestantischer Arbeitsethik und preußischen Tugenden noch in dem Erbgut von vielen von uns (Protestanten) steckt und sei es als die eine oder andere der geschmähten Sekundärtugenden?
Luther war weltlicher Geltungsdrang fremd. Gnade ist das Schlüsselwort in seiner Theologie. Der Mensch ist angewiesen auf das gnädige Eingreifen Gottes. Matthias Dobrinski schreibt in einem bemerkenswerten Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 30.10.2017 dazu: „Der Faden, der sich von diesem fernen Mann des ausgehenden Mittelalters bis heute spannt, ist die Suche nach der Gnade in einer gnadenlosen Welt, nach einer Realität jenseits der Wahrnehmung und des Augenscheins, nach der Letztbegründung der bedrohten, zerbrechlichen, gebrochenen Existenz. Es ist eine Suche, die Christen an die Grenzen ihres Glaubens führen muss, angesichts eines schweigenden und verborgenen Gottes, der aller Lebenshilfeliteratur spottet…sie stößt alle vor den Kopf, die Glaubenssicherheit wünschen. Martin Luthers großartige Antwort war: Der Christengott ist kein Gott des innerweltlichen Triumphes, des Himmelreichs auf Erden, kein „Spiritual Leader“ fürs angenehme Leben. Der gnädige Gott ist für ihn der gekreuzigte, leidende Gott, grausamstmöglich hingerichtet und erniedrigt, aller Menschenwürde beraubt. Er ist ein Gott an der Seite der Krepierenden, Ertrinkenden, Krebszerfressenen und Bombenzerfetzten, der keine menschenverständliche Antwort hat,…“.
Damit wird der Glaube zu einer inneren Angelegenheit jedes Einzelnen, zu einem Akt des durch nichts abgesicherten Vertrauens. Der Mensch muss glauben, dass Gott sich ihm allein aus Gnade zuwendet und ihn nicht an seinen Sünden oder Verdiensten misst. Der Glaube beruht damit auf der reinen Willensentscheidung, sich dem gnädigen Gott zuzuwenden. Der Sinngewinn wird aus dem Hier und Jetzt in das Reich Gottes verlagert. Darin steckt Luthers Zumutung: Aus eigener Kraft kannst du nichts dafür tun, um vor Gott besser dazustehen. In den Himmel kommt man durch Gläubigkeit und Demut. Das bedeutet, dass jede gesellschaftlich nur annähernd rational nachvollziehbare Vorstellung von ausgleichender Gerechtigkeit verabschiedet wird. Glauben und Vernunft gehen in Luthers Denken nicht zusammen. Bei Luther bringt – und das ist die den Einzelnen stärkende Seite – der Glauben an Gott Orientierung, Zuversicht und „Verzweifelungsvermeidung“ (Thea Dorn).
Zwar hat Luther das alte Glaubensgerüst in Mitteleuropa eingerissen, Anstöße in Wissenschaft, Bildung und Musik gegeben sowie reformatorisches Denken ermöglicht, zugleich blieb er aber in seinem Denken und mit seinen Ängsten dem Mittelalter verhaftet. Mit großer Selbstverständlichkeit glaubt er an Hexen und lehnt die Astronomie des Kopernikus ab. Dass sich die Erde um die Sonne drehe, widerspreche der Bibel. Zu den Schattenseiten des Luther’schen Weltbildes gehört die Judenfeindlichkeit. Antisemitismus hat in sehr verschiedenen Mustern die Geschichte des Protestantismus wie der Kirche durchzogen. Luthers Denken war über Jahrhunderte die Projektionsfläche für nationalistische und antisemitische Aufladungen. In einer aktuellen Broschüre der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Umgang mit Antisemitismus steht der Satz: „Antisemitismus ist eine Realität in der Mitte der Gesellschaft und so auch in der Mitte der Kirchen“. Eine realitätsnahe Beschreibung, die dann mit der Behauptung fortgesetzt wird, dass eine an Gott orientierte Lebenshaltung nicht nötig habe, Identität und Selbstwertgefühl durch Herabsetzung und Ausgrenzung anderer zu gewinnen. Allein mit einer Behauptung dürfte allerdings das Ausgrenzungsdenken weder in der Kirche noch in der Gesellschaft zu überwinden sein. Hier hätte man sich weitere Ausführungen gewünscht.
Luthers mittelbare und unmittelbare Wirkung bis in die Gegenwart ist unbestritten. Als Person war er ein Mann des Mittelalters. Er war angstbesessen, von vielen Krankheiten geplagt, antisemitisch, ein den Kranken und Armen zugewandter Seelsorger, ein sprachgewaltiger kirchlicher Reformator, er war abgründig und großartig zugleich und ist als Person in dieser Widersprüchlichkeit und Komplexität nicht leicht in die Gegenwart zu übersetzen. Sein Kampf gegen den Ablasshandel ist uns heute fremd, seine Höllenangst unverständlich. Vor diesem Hintergrund ist nach der Aktualität der Luther’schen Botschaft zu fragen, danach, welchen Beitrag Luther bzw. die evangelische Kirche für die Selbstverständigung in der Gegenwart leisten kann. Das Reformationsjubiläum bot dazu die Chance. Historische Anknüpfungspunkte gab es. Denn die Beteiligung des Computers an der zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen Kommunikation kann als ein ähnlicher Evolutionsschritt angesehen werden wie seinerzeit die Erfindung des Buchdrucks. Aussagen der Kirche(n) zu den Veränderungen im Zuge der Digitalisierung sucht man allerdings vergeblich. Was heißt angesichts rückgängiger Mitgliederzahlen christliches Leben im Zeitalter von Globalisierung und ökologischer Krisen und was kann evangelische Religion im Kontext der Weltreligionen positiv bewirken?
Es wurden während der Dauer des Jubiläums freundliche ökumenische Gesten ausgetauscht, eine Kultur der Nachdenklichkeit und Selbstüberprüfung (Bedford-Strohm) in den Vordergrund gestellt und ein germanozentrischer Blick auf die Reformation geworfen. Dabei umfassen die Spielarten des Protestantismus eine Milliarde Gläubige (70 Mill. Lutheraner, 80 Mill. evangelisch Reformierte, 850 Mill. der presbyterianischen Kirchen).
Von Luther wäre zu lernen, welche Kraft religiöse Überzeugung freisetzen kann. Auch wäre der suchende Luther als Modell attraktiv. Erwähnenswert wäre ebenfalls, als Folge der Reformation die Religionsfreiheit herauszustreichen. Man hatte erkannt, dass man den anderen weder bekehren noch auslöschen kann, so dass Religionsfrieden die bessere Lösung war. Was bedeutet das heute angesichts religiös motivierter Vertreibungen und in mörderischen Fanatismus ausartender Religionsauslegungen? Das Reformationsjubiläum hat die Frage nach der Relevanz Luthers heute und die Frage, ob über Luther überhaupt ein Zugang zur Moderne zu gewinnen ist, wenig zufriedenstellend beantwortet. Die Aktualisierung Luthers ist nicht wirklich gelungen, wenn sie denn, und dies Paradoxon bleibt, denn überhaupt gelingen kann.