Essener Tafel – Verteilungskonflikte als Sprungbrett für völkische Ideologie?

Der von der Essener Tafel ausgesprochene Aufnahmestopp für Ausländer hat eine mediale Welle ausgelöst; er zeigt, wie unter einem Brennglas, die politisch und gesellschaftlich facettenreiche Verkopplung der Themen Armut und Flüchtlinge. Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, kommentiert: „Kurioserweise sorgen die Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, dafür, dass einige soziale Probleme und Unterlassungen endlich wahrgenommen werden.“ Denn das Armutsproblem taucht ja nicht nur bei Tafeln auf, sondern auch in der Wohnungs- und Bildungspolitik. Schneider kritisiert mithin die soziale Schieflage und die Ignoranz gegenüber der wachsenden Ungleichheit.

Vorausgegangen war die Entscheidung der Essener Tafel, Berechtigungskarten für den Empfang von Lebensmitteln vorübergehend nur noch für Bedürftige mit deutschem Pass auszustellen. Auslöser dafür waren Geschubse und Gedrängel um Lebensmittel. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass wegen des hohen Ausländeranteils in der Schlange (etwa 75 Prozent), vor allem ältere Bedürftige und Alleinerziehende der Tafel fernblieben, weil sie sich bedrängt fühlten. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Tafeln erhellt die Überforderungssituation.

Vor 25 Jahren ist in Berlin die erste Tafel entstanden, die zwei Anliegen miteinander verknüpfte: zum einen, Lebensmittelvernichtung zu vermeiden und zum anderen, Obdachlose davon profitieren zu lassen. Im Laufe der Jahre ist dieser Ansatz erweitert worden. Heute gibt es in Deutschland 934 Tafeln, die mehr als 21.000 Läden und Ausgabestellen betreiben und etwa 60.000 Helfer und Helferinnen, die 1,5 Millionen Bedürftige versorgen. Eine gewaltige Expansion gründend auf realer Nachfrage, die zugleich den ambivalenten Charakter der Tafeln markiert. Für die einen sind die Tafeln unverzichtbare Fürsorgeeinrichtungen, für die anderen eine Schande für einen reichen Sozialstaat, der sich Kinderarmut, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Armutsrenten leistet.

Die steigende Nachfrage verbunden mit dem Problem, dass es weniger überschüssige Lebensmittel gibt, führt zu Engpässen und in der Folge zur Rationierung bei den Tafeln. Anders als in Essen werden in Marl keine alleinstehenden jungen Männer mehr  in die Kartei aufgenommen. Die Regelung gilt gleichermaßen  für Deutsche wie für Ausländer. In Potsdam, Fürth und anderen Orten hat man mit extra Ausgabezeiten für ältere Menschen, Kranke und Familien mit Kindern reagiert. Es gibt offensichtlich andere Wege mit Verknappung in einer Überforderungssituation umzugehen, auch wenn die Essener Entscheidung aus den konkreten Erfahrungen, die dort gemacht wurden, für viele nachvollziehbar erscheint (s.dazu die Umfrage in „Die Welt“). Allerdings verstößt die Essener Entscheidung gegen die Grundsätze des Bundesverbandes „Deutsche Tafel“, die besagen: „Die Tafeln arbeiten unabhängig von politischen Parteien und Konfessionen. Die Tafeln helfen allen Menschen, die der Hilfe bedürfen.“ Eine Bedürftigkeit nach Nationalitäten wird gerade nicht vorgenommen. Eine auf Dauer gerichtete Nichteinhaltung der Tafelgrundsätze müsste daher konsequenterweise zum Ausschluss aus dem Bundesverband führen.

Die Diskussion um Zugangsbeschränkungen geht jedoch an den eigentlichen Problemen vorbei. Zu fragen ist doch, ob die Tafeln für eine verfehlte Sozialpolitik stehen, für eine staatliche Unterversorgung, weil das Existenzminimum nicht reicht. Oder sind die Leistungen der Tafeln bei den Regelsätzen gar schon eingepreist? Ein schwieriges Feld, das sich hilfsweise auch per Definition kaum auflösen lässt, denn wann ist jemand arm oder von Armut bedroht? Von absoluter Armut spricht man, wenn es an die physische Existenz geht: Wenn Menschen nichts zu essen haben, keine warme Kleidung, kein Obdach, keine medizinische Versorgung. Relative Armut bedeutet, dass ein Mensch über so wenig Einkommen verfügt, dass er am normalen gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen kann. Wenn Theater- oder Zoobesuche und die Klassenfahrt zu teuer sind. Als armutsgefährdet gilt ein Mensch, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Im Gegensatz zu den Anfängen der Tafeln dürften wir es heute überwiegend mit relativer Armut zu tun haben. Es stellt sich die Frage, reicht das Existenzminimum nicht oder verschaffen sich Bedürftige mit Hilfe der Tafeln ein wenig Luft, obwohl die staatliche Unterstützung auch für Lebensmittel reichen könnte. Letztendlich Klarheit darüber dürfte wohl nur eine Befragung der Betroffenen selbst bringen, auch wenn Signale aus Politik und von Wohlfahrtsverbänden auf nicht auskömmliche Regelsätze hindeuten. Fest steht, dass Armut trotz des anhaltenden Wirtschaftsbooms nicht abnimmt, dass die Schere zwischen arm und reich weiter auseinander geht und dass Politik keinesfalls bei einer Vermessung der Armut stehen bleiben darf.

Die Essener Entscheidung hat der dortigen Tafel den Vorwurf des Rassismus eingetragen. Grünen Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hält die Entscheidung der Tafel für falsch, aber sie sei vor allem „ein Hilferuf von engagierten Freiwilligen, die dieser Not nicht mehr Herr werden und (sei) keine rechte Meinungsmache“. Natürlich kann man die vielen ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen , denen Anerkennung und Wertschätzung gebührt, nicht einfach in die rechte Ecke stellen; auch dürfte die Essener Entscheidung nicht fremdenfeindlich motiviert, sondern der besonderen Situation geschuldet sein. Doch darf man angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontextes wirklich nicht mehr Sensibilität hinsichtlich der Folgen einer derartigen Kategorisierung erwarten? Man muss sogar! Denn die Essener Entscheidung bietet ein Sprungbrett für völkisches Denken. Die soziale Frage ist keine mehr zwischen oben und unten, kein Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Inländern und Ausländern. Die Spaltung zwischen arm und reich wird  überwölbt, ja beiseite gedrängt, durch die Spaltung zwischen Deutschen und Ausländern. Die Lesart, die dabei schlussendlich herauskommt, ist, gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit hilft nur die Bevorzugung der Deutschen. Möglicherweise unbewusst hat die Essener Tafel einen Beitrag dazu geleistet, die soziale Frage zu nationalisieren und zu ethnisieren. Gesellschaftlich führt dies zur Ausgrenzung der Ausländer in der Funktion als Sündenböcke für soziale Missstände. Darin liegt ein nicht unerheblicher Sprengsatz für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Solidarität.

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