Armut – ein Armutszeugnis für ein reiches Land wie Deutschland!

Ausgelöst durch den Entschluss der Essener Tafel, zeitweise keine Ausländer mehr aufzunehmen, äußert Jens Spahn in einem Interview, mit den Hartz IV-Regelsätzen bekomme „jeder das, was er zum Leben braucht.“ Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei „die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut.“ Damit löst er eine Welle der Empörung aus und entfacht eine öffentliche Armutsdiskussion.

Natürlich haben wir in Deutschland nicht mit existentieller bzw. absoluter Armut, verglichen mit der Lebenswirklichkeit in Ländern wie Haiti, Bangladesch oder dem Jemen, zu tun. Das wäre auch ein grotesker Vergleich. Armut bezieht sich auf den Lebensstandard des jeweiligen Landes und ist insofern immer relativ zu betrachten. International wird als Armutsgefährdungsgrenze ein Schwellenwert von 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens herangezogen. Derzeit sind dies in Deutschland 1.006 Euro. Hartz IV sichert einen existenzminimalen Lebensstandard, aber in einem reichen Land ist auch arm, wer am sozialen und kulturellen Leben nicht teilhaben kann und so Ausgrenzung erfährt. In der Folge haben Kinder und Erwachsene geringere Chancen im Leben.

Die aktuellen Regelsätze liegen sämtlich unterhalb der offiziellen Armutsgrenze. Seit 1. Januar erhält ein alleinstehender Hartz IV-Empfänger 416 Euro monatlich plus Miet- und Heizkosten; ein Paarhaushalt bekommt zwei Mal 332 Euro. Nebenbei bemerkt: Jens Spahn bekommt als Gesundheitsminister 503,37 Euro brutto (pro Tag!). Für Kinder und Jugendliche gibt es, je nach Alter, zwischen 240 und 316 Euro pro Monat. Für einen alleinstehenden Erwachsenen bedeutet dies, dass er 145,04 Euro, d.h. 4,80 Euro pro Tag, für Lebensmittel zur Verfügung hat, für Bekleidung und Schuhe 36,45 Euro und für Bildung 1,06 Euro pro Monat. Kinder erhalten 2,77 Euro pro Tag für Essen. Nicht vorgesehen sind Ausgaben für alkoholische Getränke, Tabakwaren oder für  Haustiere.

Nicht wundern kann daher, dass Hartz IV-Empfänger Unterstützung bei Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern suchen. Konsequenterweise fordert ein Bündnis von über 30 Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Sozialverbänden eine deutliche Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung. Die Caritas hält 80 Euro mehr für nötig, Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, plädiert für eine Anhebung um mindestens 30 Prozent. Profitieren von einer Erhöhung würden gut 6 Millionen Hartz IV-Bezieher, 1 Million Menschen, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung erhalten sowie rund 250.000 Menschen, die in Pflege- und Behinderteneinrichtungen von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt leben. Kehrseite einer deutlichen Anhebung wäre, dass diejenigen, die derzeit knapp über der Grundsicherung liegen,  in Hartz IV rutschen und damit die Zahl der Hilfeempfänger in erheblichen Umfang vergrößern  und dass es ferner für manche dann noch weniger attraktiv ist aus Hartz IV herauszukommen, weil beispielsweise der über das Jobcenter finanzierte Regelbedarf für eine Familie mit 2 oder mehr Kindern auf dem Arbeitsmarkt nicht so einfach zu verdienen ist, vor allem, wenn die Betroffenen langzeitarbeitslos und schlecht qualifiziert sind.

Alternativ bietet es sich an, Schwachstellen im System zu beheben. Beispielsweise müssen Hartz IV-Empfänger stärker davon profitieren, wenn sie zusätzlich zur Grundsicherung Geld verdienen. Bislang dürfen sie 100 Euro einfach dazuverdienen. Bei jedem weiteren Zuverdienst bis 1.000 Euro werden 80 Prozent mit den Transferzahlungen verrechnet. Wer also 500 Euro dazuverdient, hat am Ende 180 Euro mehr als ohne Arbeit. Dies stellt einen eklatanten Fehlanreiz dar, aber keine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt.

Wo immer möglich, sollte Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit finanziert werden. Ein Instrument dazu ist der Passiv-Aktiv-Tausch; ein anderes, der jetzt  von Minister Hubertus Heil erneut propagierte soziale Arbeitsmarkt. Der soziale Arbeitsmarkt ist für diejenigen reserviert, die in absehbarer Zeit keinen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt finden können. Nach Angaben des Ministeriums sollen 150.000 der 850.000 Langzeitarbeitslosen in den nächsten Jahren davon profitieren.

Notwendig ist in jedem Fall, mehr Geld in das Hartz IV-System zu geben, denn die Jobcenter waren in den letzten Jahren finanziell nicht ausreichend ausgestattet, um Arbeitslose gut betreuen und entsprechende Maßnahmen durchführen zu können. Vordringlich sind mehr finanzielle Mittel für einen besseren Betreuungsschlüssel. Studien zeigen, je kleiner der Betreuungsschlüssel, desto größer der Integrationserfolg.

Nach dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung war 2016 fast ein Fünftel (19,7 Prozent) der Bevölkerung von Armut bedroht. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen. Das Bedrückende bei dem Thema Armut ist, dass die bedrückenden Befunde zur Armut in Deutschland bekannt sind:

Die Lebenserwartung des ärmsten Bevölkerungszehntels liegt für Männer um elf, für Frauen um acht Jahre unter der Lebenszeit des obersten Zehntels, d.h. arme Menschen haben im Schnitt eine deutlich geringere Lebenserwartung.

Armut wird vererbt. Kinder aus benachteiligten Familien weisen weitaus schlechtere Bildungserfolge auf als besser gestellte, sie verdienen weniger, steigen seltener auf und tragen ein größeres Risiko, in der Grundsicherung im Alter zu landen.

Die soziale Herkunft bestimmt Erfolg und Misserfolg in Bildung und Beruf. Während zwei Drittel der Kinder aus dem Bildungsbürgertum einen akademischen Abschluss schaffen und 10 Prozent davon promovieren, liegen die Vergleichswerte in bildungsfernen Haushalten bei 15 bzw. einem Prozent.

Andere Untersuchungen zeigen, dass arme und benachteiligte Familien häufig in sozial und baulich abgewirtschafteten Quartieren wohnen , häufiger auch an verkehrsreichen Straßen, so dass sie Lärm, Feinstaub und Schadstoffen deutlich stärker ausgesetzt sind. Wieder andere Berichte heben  durch Armut bedingte demütigende und diskriminierende Situationen hervor, etwa wenn ein achtjähriger Schüler im Winter in Sandalen zur Schule kommt oder wenn eine zwölfjährige sagt oder sagen muss, sie habe keinen Hunger, während sich ihre Freundinnen eine Pizza gönnen.

Kann es angesichts dieser Befunde noch verwundern, wenn Arme und Benachteiligte sich von der Politik allein gelassen fühlen? Zumal die Einkommensschere zwischen Armen und Reichen immer weiter auseinandergeht und sich niemand darum kümmert. Ein Umverteilen steht auch nicht auf der Agenda der neuen Bundesregierung. Von dem Bruttoinlandsprodukt von 3227 Milliarden Euro gibt Deutschland ein knappes Drittel für soziale Leistungen aus ; davon gehen gerade mal 45 Milliarden ins Hartz IV-System. Der größte Teil des Geldes wird für Leistungen an die Mittelschicht ausgegeben, für Elterngeld, Rentenzuschüsse, Versorgungsleistungen für Beamte, für die Mütterrente, kostenlose Kita-Plätze, Baukindergeld etc. Das Steuergeld geht nicht an Bürger, die wirklich bedürftig sind. Ohne eine politisch bewusst angegangene Umverteilung werden die Bedürftigen sehenden Auges weiter abgehängt. Von einer angemessenen Vermögensverteilung kann keine Rede sein.

In den letzten Jahren macht sich daher zunehmend das Gefühl von  Ungerechtigkeit breit. Während bei Hartz IV-Empfängern penibel jeder Cent berechnet wird, steigen die Vorstandsvergütungen und Boni der Manager exorbitant an. Manager scheinen nur noch an horizontalen Vergleichen interessiert, an dem, was ihre Kollegen verdienen. Der Blick auf die Armen und Benachteiligten in der Gesellschaft ist ihnen abhanden gekommen, das Gemeinwohl steht nicht in ihrem Fokus.

Die Gefahren für die soziale und politische Stabilität sind unübersehbar. Nicht nur, weil Benachteiligte, gespeist durch die erlebten Abwertungserfahrungen und durch den Wettbewerb mit den Flüchtlingen um Arbeitsplätze und Wohnungen. populistische und nationalistische Ventile für ihre Vernachlässigung und ihre Enttäuschungen suchen, sondern weil sich zudem in der Mittelschicht, ausgelöst durch Globalisierung und Digitalisierung, Verunsicherung breit macht und Abstiegsängste um sich greifen. Darin steckt Sprengkraft, auch für die Demokratie.

Bereits 2003 (!) fasste Papst Johannes Paul II. seine Sorge in drastische Worte: „Es ist bestürzend, eine Globalisierung zu sehen, die die Lebensbedingungen der Armen immer schwieriger macht, die nichts beiträgt, um Hunger, Armut und soziale Ungleichheit zu heilen, und die die Umwelt mit Füßen tritt. Das Gefälle zwischen Arm und Reich steigt in armen wie in reichen Ländern……Diese Aspekte der Globalisierung können zu extremen Gegenreaktionen führen: zu Nationalismus, zu religiösem Fanatismus, sogar zum Terrorismus.“

Die Politik ist gefordert, der Ungleichheit der Verteilung der materiellen Güter und Lebenschancen nicht weiter Vorschub zu leisten Ein Weiter so könnte fatal werden.

 

 

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