Der Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“ des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, und die Äußerung Jens Spahns, Hartz IV sei nicht gleichbedeutend mit Armut, haben die Debatte über Hartz IV neu entfacht. Schon seit Jahren und mit Ausdauer arbeitet sich die SPD an der Agenda 2010 ab und jetzt ringt sie aktuell wieder um Korrekturen an den Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder. Dabei geht es um die Frage, soll das Prinzip des „Förderns und Forderns“ beibehalten werden oder durch ein wie immer ausgestaltetes Grundeinkommen ersetzt werden. Denn dass eine Reihe von Korrekturen notwendig sind, scheint unstrittig zu sein. Die Debatte über Hartz IV wird, angesichts der Herausforderungen durch Digitalisierung und Globalisierung, überwölbt von Fragen nach der Zukunft der Arbeit und nach der Zukunft des Sozialstaats.
Mit seinem Vorschlag des „solidarischen Grundeinkommens“, nicht zu verwechseln mit dem „bedingungslosen Grundeinkommen“, propagiert Berlins Bürgermeister Müller den Aufbruch vom Status Quo und entwickelt aus seiner Sicht ein Alternativszenario zu Hartz IV. Ein Ersatz für Hartz IV ist es jedoch nicht, bestenfalls eine Ergänzung, denn er schlägt lediglich vor, für bis zu 150.000 Langzeitarbeitslose Stellen in kommunalen oder landeseigenen Einrichtungen zu schaffen. Langzeitarbeitslose sollen gesellschaftlich sinnvolle, gemeinnützige Tätigkeiten übernehmen, freiwillig, sozialversicherungspflichtig, in Vollzeit, unbefristet und bezahlt nach Tarif- oder Mindestlohn. Als denkbare Jobs werden vom DIW genannt: Babysitting bei Alleinerziehenden, Ernährungsberatung, Hausmeisterdienste in kommunalen Einrichtungen, Einkaufen und Alltagsbegleitung für Kranke, Ältere und Menschen mit Behinderung, Flüchtlingshilfe, Jugend- und Familienhilfe, Übungsleiter im Verein etc. Die Crux bei den genannten Beschäftigungen ist, dass sie entweder dazu tendieren, reguläre Jobs zu verdrängen, denn beispielsweise Ernährungsberatung, Hausmeister- und Lieferdienste sind marktförmige Leistungen oder aber ehrenamtliche Arbeit beschädigen, wenn etwa ein nach Mindestlohn bezahlter neben einem auf Honorarbasis arbeitenden Übungsleiter tätig ist oder ein nach Mindestlohn vergüteter Altenbegleiter neben einem ehrenamtlich organisierten Generationenhilfeverein agiert.
Die Kritik an Müllers Vorschlag fällt entsprechend heftig aus. Sie reicht von Etikettenschwindel (Katja Kipping) bis hin zu dem Vorwurf, durch künstliche Beschäftigung im öffentlichen Dienst einen staatlich geförderten Niedriglohnsektor aufbauen zu wollen. Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, moniert darüber hinaus: „Ein Hartz IV-Empfänger, der für eine gesellschaftliche Tätigkeit in Vollzeit ein solidarisches Grundeinkommen erhalten würde, ist auch in der Lage einer geregelten Tätigkeit nachzugehen.“ Wer aufgrund von Gesundheitsproblemen dem Arbeitsmarkt eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung steht, kann wiederum auch keiner gesellschaftlichen Tätigkeit in Vollzeit nachgehen. Die Vorschläge des Regierenden Bürgermeisters von Berlin helfen den besonders schwer vermittelbaren Hartz IV-Empfängern mit gesundheitlichen, psychischen oder Suchtproblemen also nicht wirklich. Das Instrument des „solidarischen Grundeinkommens“ dürfte daher wohl nur eine Episode in der Diskussion um die Hartz IV-Gesetze darstellen.
Fest verankert im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist hingegen das Konzept des „sozialen Arbeitsmarktes“. Vier Milliarden Euro sollen demnach von 2018 bis 2021 in staatlich geförderte Stellen für Langzeitarbeitslose fließen. 150.000 Langzeitarbeitslose sollen so einen staatlich bezuschussten Arbeitsplatz bekommen. Im Haushaltsentwurf sind nun allerdings bloß 3,2 Milliarden vorgesehen; erst 2022 sollen die vier Milliarden erreicht werden. Langzeitarbeitslose können dann mit Lohnkostenzuschüssen in der freien Wirtschaft, bei Wohlfahrtsverbänden oder gemeinnützig für Kommunen arbeiten. Sie sollen dabei von Coaches begleitet werden, die gemeinsam mit ihnen an der Stabilisierung und Heranführung an reguläre Beschäftigung arbeiten. Arbeitsminister Hubertus Heil stellt sich einen Lohnkostenzuschuss für fünf Jahre vor, der langsam abgeschmolzen wird. Ein Eigenbetrag von Einrichtungen und Unternehmen ist schon deshalb erforderlich, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden. Mit dem Konzept des „sozialen Arbeitsmarktes“ wird der Arbeitsminister dem Kreis der adressierten Langzeitarbeitslosen, der ja von marktkonformen Kunden bis zu denen, die keine Chance auf Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt haben, reicht, deutlich besser gerecht als Berlins Bürgermeister mit seinem Vorschlag des „solidarischen Grundeinkommens“.
Arbeitsminister Hubertus Heil hat ferner angekündigt, sich einem zentralen Kritikpunkt der Hartz IV-Gesetze zu widmen: den Sanktionen. Er will prüfen, welche Sanktionen noch sinnvoll sind. Besonders hart sind dabei die Regelungen für junge Menschen unter 25. Bei ihnen sieht das Gesetz bei bestimmten Regelverstößen bereits beim ersten Mal eine hundertprozentige Kürzung der Regelleistung vor. Kommt innerhalb eines Jahres ein weiterer Pflichtverstoß hinzu, können auch die Zahlungen für die Miete gekürzt und junge Menschen damit in die Obdachlosigkeit getrieben werden. Die Grünen sehen bei den Sanktionen keine positiven Effekte im Hinblick auf eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Kritisch zu den Sanktionen bei jungen Menschen äußerte sich auch der Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, während der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende, Hermann Gröhe, an den Sanktionen festhalten will.
Es gibt weitere Punkte bei denen Korrekturen an den Hartz IV-Gesetzen als notwendig angesehen werden. So steht bereits im Koalitionsvertrag, dass selbst genutztes Wohneigentum nicht mehr als Vermögen berücksichtigt werden soll, wenn entschieden wird, ob jemand Grundsicherung bekommt oder nicht. Außerdem muss es bei der Vermögensanrechnung höhere Freibeträge geben. Es kann nicht sein, dass derjenige, der 20 oder 30 Jahre gearbeitet und in die Sozialversicherungen eingezahlt hat, sein ganzes Vermögen aufbrauchen muss, um Hartz IV zu erhalten und gleichgestellt wird mit jemandem, der sein ganzes Leben auf Hartz IV angewiesen ist. Genau dies fördert die Angst vor dem sozialen Abstieg. In diesen Kontext gehört die sozialdemokratische Idee eines Arbeitslosengeldes Q. Die Menschen sollen dann länger als bisher Unterstützung in Höhe des Arbeitslosengeldes I erhalten, wenn sie sich in zielgerichteter Weiterbildung befinden. Überdacht werden muss auch die Regelung, dass Hartz IV-Bezieher grundsätzlich jede Arbeit annehmen müssen. Denn die Annahme einer unterqualifizierten Tätigkeit bedeutet sehr bald den Verlust der erworbenen Qualifikation und befördert einen Prozess der rapiden Dequalifizierung.
Einen klaren Weiterentwicklungsbedarf bei den Hartz IV-Gesetzen sieht auch Ulrich Walwei, Vizedirektor des IAB. In der Süddeutschen Zeitung vom 14./15. April 2018 formuliert er unter der Überschrift „Hartz IV ist besser als sein Ruf“ dazu fünf Punkte: Erstens muss es für die Menschen noch attraktiver werden, einen Job aufzunehmen. Zweitens sollten den Jobcentern endlich die notwendigen finanziellen Mittel für einen kleineren Betreuungsschlüssel zur Verfügung gestellt werden. Drittens braucht es einen sozialen Arbeitsmarkt, viertens den Ausbau der sozialen Infrastruktur, beispielsweise bezahlbaren Wohnraum, günstige Betreuungs- und Pflegeangebote sowie stark ermäßigte öffentliche Verkehrsmittel. Und fünftens sollte die Prävention intensiviert und Bildungsarmut bekämpft werden.
Die bis hierher skizzierte Debatte reicht über die angemessene Höhe der Regelsätze bis zu den notwendigen Korrekturen an Hartz IV; sie bietet hinreichend Stoff für eine Erneuerung der Hartz IV-Gesetze. Aber gibt es dafür auch politische Mehrheiten? Kleine oder größere Reparaturen an den Hartz IV-Gesetzen lassen sich wohl vornehmen, aber gelingt es auch den beschädigten Ruf der Gesetze zu reparieren und gesellschaftliche Akzeptanz für eine Erneuerung der Hartz IV-Gesetze zu gewinnen und schließlich: Erfasst die politische Debatte wirklich die zentralen Punkte?
Die Debatte über Hartz IV wird von bestimmten Annahmen über menschliches Verhalten , von einem bestimmten Menschenbild, geprägt. Es dominiert das Denken in Anreizstrukturen; Erwerbslose werden als rational handelnde und damit zugleich unterstellt als faule homines oeconomici begriffen, die erst arbeiten gehen, wenn der Leidensdruck hoch genug ist. Daraus resultieren gesetzgeberisch Sanktionen und verschärfte Zumutbarkeitsregeln. Oder mit den Worten von Hermann Gröhe, wer die Solidarität der Gesellschaft zur Sicherung seiner Lebenshaltungskosten in Anspruch nehme, habe auch die Pflicht zur Mitwirkung. Mitwirkungspflichten ohne Sanktionen seien nicht sinnvoll. Darin manifestiert sich eine individualistische Sichtweise, die das Leistungsprinzip aushöhlt und den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt auf den Willen des einzelnen Erwerbslosen zurückführt. Unterschlagen wird dabei, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen einfach nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, dass es aufgrund der Unterfinanzierung im SGB II an Qualifizierungsangeboten mangelt und dass viele Unternehmen gar keine Langzeitarbeitslosen einstellen. Unterschlagen werden die vielfältigen Ursachen von struktureller Arbeitslosigkeit.
Politisches Handeln wird nach wie vor von den Grundannahmen der neoklassischen Ökonomie bestimmt, deren Schlussfolgerung zugespitzt lautet: Sozialleistungen schaden der Volkswirtschaft. Die Agenda 2010 hat – nicht zuletzt durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors – den Aufschwung am Arbeitsmarkt unterstützt und den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit gefördert. Daher gibt es aus wirtschaftlicher Sicht zunächst einmal keinen Grund, die neoklassische Ökonomie in Zweifel zu ziehen und auch keinen Grund, die chronische Unterfinanzierung des SGB II-Bereiches zu beenden. Diese manifestiert sich in den bescheidenen Erhöhungen der Regelsätze sowie den nicht auskömmlichen Mitteln für die Jobcenter. 2018 wird wahrscheinlich eine Milliarde Euro aus dem Topf für Eingliederungsleistungen in das Verwaltungsbudget fließen und damit den Erwerbslosen für Qualifizierungs- und Eingliederungsmaßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Anstalten dies zu ändern, sind seitens der Bundesregierung nicht zu erkennen.
Mit der Einführung der Agenda 2010 wurde das Arbeitslosengeld zurückgefahren, die lange Bezugsdauer und der hohe Qualifikationsschutz gekappt und es wurden dadurch Armutsrisiken für die Zukunft geschaffen. Dem wirtschaftlichen Aufschwung steht somit der Abbau von Sozialstandards gegenüber. Die Angst, nach dem Verlust des Arbeitsplatzes auf ein minimales Niveau herunterzufallen, hat zersetzend auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt gewirkt und, begleitet von entsprechenden politischen Verwerfungen, zu einer Verunsicherung geführt, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Die Finanzindustrie floriert und die neue, ungebrochen anhaltene Bereicherungspolitik befördert die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft. Nach der Finanzkrise von 2008 ist das Volumen und die Konzentration von Kapital in den Händen weniger noch größer geworden. Diese Art der Politik hat tiefe Löcher in das Sozialstaatsmodell gerissen.
Die Debatte um die steigende soziale Ungleichheit wird durch die Globalisierung, die die Ungleichheit noch verstärkt, weiter befeuert. Davon profitieren populistische und nationalistische Strömungen, die vehement die Eindämmung der Globalisierung fordern. Eine weitere Herausforderung stellt die Digitalisierung dar, die mit großer Geschwindigkeit unsere Arbeitsplätze und Arbeitsweisen verändert und Fragen nach der Zukunft der Arbeit aufwirft. Denn nicht alle Menschen werden den Anschluss an eine automatisierte und digitalisierte Welt finden. Wie organisieren wir angesichts eines ins Wanken geratenen Sozialstaats, angesichts steigender sozioökonomischer Ungleichheit und der Geschwindigkeit des digitalen Wandels Veränderung, wie gesellschaftliche Teilhabe? Die politische Debatte darüber hat noch nicht wirklich begonnen.
Vor diesem Hintergrund gibt es Alternativszenarien, die nicht auf eine Reparatur oder eine Weiterentwicklung der Hartz IV-Gesetze setzen. Ein solches Szenario stellt das bedingungslose Grundeinkommen dar. An die Stelle herkömmlicher Sozialleistungen tritt ein Grundeinkommen für alle, das nicht an Voraussetzungen geknüpft ist. In absehbarer Zeit scheint es allerdings kaum Realisierungschancen für diesen Systemwechsel zu geben.
Ein anderes Konzept verfolgt der Grünen-Bundestagsabgeordnete und Sprecher für Arbeitsmarktpolitik seiner Fraktion, Wolfgang Strengmann-Kuhn. Seine Auffassung nach braucht es einen neuen Ansatz, der den Wert des Individuums vom Erfolg in der Arbeitswelt abkoppelt und die Würde sowie das Subjekt in den Fokus politischer Reformen rückt. Sein Vorschlag ist ein Basisgeld für Arbeitslose in Höhe des Regelsatzes, das ohne Bedürftigkeitsprüfung ausgezahlt wird. Auch hier dürften die Realisierungschancen gering sein.
An dieser wie auch an anderen Stellen fehlt der Politik sowie der Ministerialbürokratie des BMAS der Mut zu Experimenten, wie ihn beispielsweise die Finnen zeigen. Die Koalition aus liberalem Zentrum, Rechtspopulisten und Konservativen hat den Willen zu Versuchsreihen in ihrem Regierungsprogramm festgeschrieben. Der Test mit dem bedingungslosen Grundeinkommen dürfte der bekannteste aus einer Reihe von 25 strategischen Experimenten sein. Diese Herangehensweise eröffnet die Möglichkeit, zu neuen Einsichten zu kommen, belebt die politische Kultur und gibt im besten Fall Antworten auf Zukunftsfragen.
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