Noch nie ist eine deutsche Fußballnationalmannschaft bei einer Weltmeisterschaft bereits nach der Vorrunde rausgeflogen. Der Absturz des Weltmeisters von 2014 auf den letzten Platz der Gruppe F in 2018 hätte nicht größer sein können. Eine historische Blamage für Jogi Löw und sein Team.
Gründe und Ursachen für das müde, pomadige und selbstgefällige Auftreten gibt es viele. Warnsignale, wie die Niederlage gegen Österreich und das knappe Ergebnis gegen Saudi-Arabien in der Vorbereitung wurden ebenso übersehen und beiseite gewischt, wie die Tatsache, dass der Bundesligafußball in der Champions League und der Europa League dem internationalen Niveau sichtbar hinterherhinkt. Auch im Nachwuchsbereich gibt es offensichtlich Defizite, denn U 21-Trainer Stefan Kuntz stellt fest, dass andere Nationen uns überholt haben, weil sie in vielen Bereichen schneller, dynamischer und genauer sind, Veränderungen vorgenommen und ihr System weiterentwickelt haben. Sicherlich waren die Rahmenbedingungen mit einem überbordenden Betreuerstab und umfangreichen Marketingmaßnahmen auch nicht optimal, doch der Kern des Scheiterns liegt in der Hybris von Trainer, Mannschaft und DFB. Als fatale Symbolik zeigt sich dies in dem hochmütig daherkommenden Marketingspruch von Mercedes „Best never rest“, mit dem Mercedes und die Mannschaft jetzt gründlich blamiert dastehen und darüber hinaus einen ziemlichen Imageschaden angerichtet haben.
Noch kurz vor dem Beginn der Weltmeisterschaft in Russland hatte Thomas Müller auf die Weltmeister von 2014 gesetzt, von denen dann auch acht im Spiel gegen Mexiko auf dem Platz standen. Müller hob die große Erfahrung und die „einheitliche Philosophie, die der Bundestrainer immer wieder einschleift und vorgibt“, hervor, sie biete einen womöglich entscheidenden Wettbewerbsvorteil: „Wir haben ein Korsett, an dem sich jeder Spieler orientieren kann. An fehlenden Abläufen wird es bei uns auf keinen Fall scheitern.“
Dann kam die Weltmeisterschaft und der Systemabsturz gegen Mexiko. Das folgende Spiel gegen Schweden fand in Sotschi statt. Eine geradezu ideale Gelegenheit, die Leichtigkeit und Gewinnermentalität des Confed-Cup-Siegers von 2017 zu reproduzieren. Löw posierte am Schwarzen Meer mit T-Shirt und Sonnenbrille, an eine Laterne gelehnt, lässig und tiefenentspannt. Wir haben alles im Griff und ich werde es schon richten, sollte die Botschaft offensichtlich lauten. Er selbst glaubte wohl, dass allein aus Gewohnheit alles wieder super laufen würde. Durch das brillante Last-Minute-Freistoßtor von Toni Kroos wurden die aufkeimenden Zweifel an dieser Mannschaft kurzzeitig überdeckt. Die Ernüchterung kam in dem Spiel gegen einsatzfreudige und laufstarke Südkoreaner; sie legten die Defizite der DFB-Elf gnadenlos bloß: mangelnde physische Fitness einiger Spieler, fehlende fußballerische Klasse, eine lasche Einstellung, mangelnder Teamgeist, keine Körperspannung und Energie, keine Inspiration, insgesamt eine überhebliche, inhomogene und indisponierte Truppe.
Die Löw’sche Philosophie, die auf Erfahrung, Routine und Dominanz auf dem Platz basiert, griff dieses Mal nicht. Einen Plan B hatte er nicht in petto; einen Leader, wie 2014 Bastian Schweinsteiger, der mit am Kopf blutender Wunde leidenschaftlich um den Weltmeistertitel fightete, auch nicht. Seine Trainerkollegen aus Mexiko und Südkorea hatten das Spiel der DFB-Elf dechiffriert und coachten ihn ebenso locker wie eiskalt aus, zumal dem deutschen Spiel Variabilität, Überraschungsmomente und Dynamik fehlten. Löw, der den Verwalter des Status Quo gab, gelang es weder, die Generation der sichtbar saturierten Weltmeister mit jener der aufstrebenden Confed-Cup-Sieger zu verzahnen, noch sein Spielsystem und seine Taktikphilosophie weiter zu entwickeln und daraus eine neue Dynamik zu entfalten, geschweige denn eine neue Mannschaft zu formen. Noch im Spiel gegen Südkorea wechselte er den bis dahin wenig überzeugenden Thomas Müller ein. Nicht gerade ein Zeichen kreativer Risikobereitschaft. Löw verbreitete vor und während der Weltmeisterschaft ein lässiges ‚ Wir-schaffen-das-Gefühl ‚, ein Gefühl, das er mit vielen Experten und einer breiten Öffentlichkeit teilte. Bis die Spiele in Russland offenbarten, der Grat zwischen Lässigkeit sowie abgehobenem Schweben über den Dingen hin zu realitätsferner Entrücktheit ist ziemlich schmal.
Gleichwohl sind die Verdienste des Bundestrainers unbestritten. Mit seiner Spielidee eines ästhetisch schönen Besitzfußballs löste er ab 2006 den noch zu Beginn der 2000er Jahre gespielten Rumpelfußball ab. Er formte eine über die Jahre überaus erfolgreiche Mannschaft, die mit bis dahin ungewohnter Spritzigkeit und Leichtigkeit zu Werke ging und ihre Entwicklung mit der Weltmeisterschaft 2014 krönte. Es war eine „goldene Generation.“
Ohne die Wechselwirkung zwischen Politik und Fußball zu überschätzen korrespondierte mit dem Aufschwung der Nationalmannschaft das Wohlergehen Deutschlands (und umgekehrt). Alles begann mit dem Sommermärchen 2006. Deutschland zeigte sich freundlich, weltoffen und unverkrampft patriotisch. In der Presse wurden Parallelen zwischen dem kooperativen und verbindlichen Politikstil Angela Merkels und der Arbeit von Jürgen Klinsmann und Joachim Löw gezogen. In den darauf folgenden Jahren konnte weder die Finanzkrise noch die Griechenland- und Eurokrise dem anhaltenden Wachstum in Deutschland etwas anhaben. Angelika Merkel avancierte zur erfolgreichen Krisenmanagerin und zur einflussreichsten Politikerin Europas, der es gelingt, die Arbeitslosigkeit zu senken, die Staatsverschuldung zu stoppen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wieder herzustellen. Dabei profitierte sie zweifellos auch von den durch Gerhard Schröder eingeleiteten Reformen.
Bei der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika führt Joachim Löw die Nationalelf auf den dritten Platz, 2014 zum Weltmeistertitel. Angela Merkel ist bei dem Finale gegen Argentinien dabei. Fast innige Fotos von ihr mit den Spielern und dem Trainer gehen um die Welt. Mit Mesut Özil, Jerome Boateng und Sami Khedira wird die Mannschaft als Beispiel für gelungene Integrationspolitik gefeiert. Man ist mit sich selbst und der Welt im Reinen.
Mit der Flüchtlingskrise 2015 kam der Umbruch. Trotz der anfänglichen Begeisterung und gelebter Willkommenskultur schlägt die Stimmung im Land um. Ausgelöst durch die Migrationsfrage entwickelt sich eine politische Krise. Zudem greift Unsicherheit um sich, denn mit dem Zollkonflikt mit den USA, Trumps Ablehnung der EU und seiner Abwertung von Minderheiten sowie dem Brexit kommt außenpolitisch eine ganze Menge mit schwer zu kalkulierenden Auswirkungen zusammen. Das Klima wird rauher und härter, Provinzialität und Nationalismus sind auf dem Vormarsch. Statt Solidarität, Teamgeist und Kooperation heißen die Spielregeln jetzt Konfrontation, Kompromiss- und Rücksichtslosigkeit. Statt Weltoffenheit gewinnen nationale Enge und latenter Rassismus an Boden. In der Fußballlandschaft müssen Boateng und Özil für einen sich ausbreitenden Rassismus herhalten. Dazu passt, dass weder Grindel noch Löw noch Bierhoff in der Lage waren, die Özil-Gündogan-Erdogan-Affaire öffentlich zu bearbeiten und aus der Welt zu schaffen. Ein Integrationsgau, der die Mannschaft belastete.
So wie Löw in seiner Komfortzone gefangen blieb und interne wie externe Veränderungsprozesse verkannte, zeigt sich, dass Angela Merkels Politikstil der kleinen Tippelschritte, eine Politik des Vertagens und Wegschauens, den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht unbedingt mehr adäquat ist. Die Welt, in der Deutschland einen sicheren Platz hatte und in der man sich trotz aller Krisen gemütlich und selbstgefällig eingerichtet hatte, existiert so nicht mehr.
Auf die Zukunft bezogen ist die Frage: Trotzen unsere Werte, Standards und Spielregeln den gesellschaftlichen Umbrüchen, schmiegen sie sich den neuen Gegebenheiten an oder werden sie durch radikale Umbrüche fortgerissen?
Innenpolitisch hat die Globalisierung zu mehr Ungleichheit in der Gesellschaft und gekoppelt mit der Migrationsfrage zu einem Aufschwung rechter bzw. rechtspopulistischer Strömungen und Parteien geführt. Die Asylpolitik überlagert und blockiert derzeit alle anderen Politikfelder. Aber auch ohne Asylproblematik wurden Themen verschleppt. Grundlegende und sichtbare Verbesserungen sind nicht in Sicht: Die Klimabilanz Deutschlands fällt katastrophal aus, die Autoindustrie wird in ihren betrügerischen Machenschaften nicht gestoppt; jedenfalls nicht von der Politik. Wichtige Themen, wie Pflege, Fachkräftemangel, Wohnen, Digitalisierung und künstliche Intelligenz bleiben liegen; der Reformstau hinsichtlich infrastruktureller Maßnahmen geht in die Milliarden. Wegschauen oder in Watte packen hilft da nicht mehr. „Tiefgreifende Maßnahmen“ bedingen ein Aufbrechen alter Strukturen sowie spürbare Veränderungen. Dies gilt, mit unterschiedlicher Akzentuierung , für Löw wie für Merkel.
Von Goethe stammt der Satz: „Alle Veränderung resultiert aus Leid.“ Haben wir diesen Punkt jetzt erreicht?