Deutschland hat derzeit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa und verfügt mit der dualen Ausbildung über ein weltweit hoch angesehenes Ausbildungswesen. Doch diese Zustandsbeschreibung darf nicht den sich vollziehenden Wandel vom Lehrstellenmangel der späten Neunziger und frühen Nullerjahre zum heutigen Bewerbermangel überdecken.
In den Neunzigern machte es die Jugendarbeitslosigkeit über 20 Prozent der Jugendlichen unmöglich, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu erhalten. Bei der Vergabe der ohnehin reduzierten Zahl der Ausbildungsplätze verdrängten Abiturienten Realschüler und Realschüler Hauptschüler, denen mangels beruflicher Perspektiven nicht selten jegliche schulische Motivation abging. Zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem etablierte und erstreckte sich ein breit gefächertes Übergangssystem, in dem Jugendliche für die Ausbildung fit gemacht werden sollten, zusätzliche Qualifikationen erwarben oder einfach nur in Warteschleifen verharrten. In einer solchen Ausgangslage sind junge Leute bemüht, nicht zu den Bildungs- und Zukunftsverlierern zu gehören und rüsten sich mit einer möglichst guten Bildung. Seit 1995 stieg der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die das Abitur oder Fachabitur erwarben, jedes Jahr um fast einen Prozentpunkt. Heute erwerben 50 und mehr Prozent der Schulabsolventen die Hochschulzugangsberechtigung. Mit der Tendenz zum Abitur hat der Übergang in die berufliche Bildung seine dominante Stellung verloren. Gleichzeitig geht dadurch die Schere zwischen denen, die Abitur machen, und denen, die ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung sind, zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Jugendlichen weiter auf.
Die berufliche Ausbildung gerät inzwischen gleich mehrfach unter Druck, durch den Trend zum Studium, durch die demographische Entwicklung, die die Zahl der Schüler und Schülerinnen langsam aber stetig sinken lässt und durch rasant schnell ablaufende Modernisierungsprozesse, die neue berufliche Anforderungen stellen. Besonders das Handwerk ist davon betroffen, denn das traditionelle Klientel der Hauptschüler wird weniger. Aber auch in anderen Bereichen, wie etwa in der Pflege oder in den Kindertagesstätten, fehlen Fachkräfte.
Von 2009 bis 2017 hat sich die Zahl der unbesetzten Lehrstellen im Handwerk verdreifacht. Nicht zuletzt, weil Status und Ansehen der Handwerksberufe bei den Jugendlichen nicht sonderlich hoch im Kurs stehen und die Azubi-Vergütung gering ist. Zwar gilt, wo wenig verdient wird, wird auch in der Ausbildung wenig verdient, doch wenn sich an den späteren Gehaltsperspektiven nichts ändert, werden einige Berufe schlichtweg abgewählt, jedenfalls von denen, die Optionen haben.
Laut Datenreport des Bundesinstituts für Berufsbildung konnten 2017 mehr als ein Drittel der Lehrstellen in der Gastronomie, im Metzgerhandwerk und im Lebensmitteleinzelhandel nicht besetzt werden. Bei Gebäudereinigern, Bäckern, Gerüst-, Beton- und Stahlbauern blieben rund ein Viertel der Ausbildungsplätze frei. Hinzu kommt, dass viele Ausbildungsverträge vorzeitig gelöst werden. Jedes Jahr brechen 70.000 Jugendliche ihre Ausbildung ab. Die höchsten Abbruchquoten weisen Gastronomie, Gebäudereiniger, Lebensmittelfachverkäufer und Gerüstbauer auf. Neben Arbeitszeiten, Überstunden und teilweise schlechten Arbeitsbedingungen spielt die Höhe der Vergütung dabei eine Rolle. Für Fachverkäufer im Lebensmittelhandel, beispielsweise, liegt die Vergütung im ersten Lehrjahr bei 528 Euro, im Friseurhandwerk bei 406 Euro; durchschnittlich werden 670 Euro Ausbildungsvergütung im ersten Lehrjahr gezahlt.
Während früher Betriebe unter zahlreichen Bewerbern und Bewerberinnen auswählen konnten, ist es heute umgekehrt. Jugendliche wählen immer häufiger ihren Ausbildungsbetrieb aus. Es sind die Unternehmen, die um die Gunst ihrer künftigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werben müssen. Das dürfte über kurz oder lang zu einer psychischen Entspannung auf Seiten der jungen Leute führen. Und dies bereits in der Schule, da es nicht mehr so wichtig ist, unbedingt einen ausgezeichneten Schulabschluss zu erreichen, denn es gibt jetzt schon, und künftig noch mehr, viele Arbeitsplätze, die besetzt werden müssen.
Daraus folgt, dass Ausbildungsbetriebe auch schwächeren Bewerbern Chancen geben (müssen) und dass Menschen ohne Ausbildung nachqualifiziert werden. Für die Ausbildung zu gewinnen sind auch die jungen Menschen, die derzeit noch im Übergangssystem feststecken und die aus Zuwandererfamilien. Diese sind überdurchschnittlich häufig ohne Berufsabschluss und bleiben damit ungelernt; auch wollen sie lieber schnell, z.B. in Zeitarbeitsfirmen, Geld verdienen. Der Sinn einer Ausbildung erschließt sich ihnen oft nicht. Ihre Integration in die Ausbildung und in den Arbeitsmarkt verläuft daher schleppend und es ist durchaus lohnenswert, die Jugendlichen von der Sinnhaftigkeit der dualen Ausbildung zu überzeugen. Denn wir können es uns nicht leisten, die Potenziale so vieler junger Menschen ungenutzt zu lassen.
Wo der Nachwuchsmangel eklatant ist, müssen sich Betriebe etwas einfallen lassen: Mehr Geld, attraktivere Arbeitszeitmodelle und Abschied von der Denke „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“. Ein Teil der Betriebe hat sich bereits auf den Weg gemacht, sie organisieren Nachhilfekurse, bieten Weiterbildung an oder flexibilisieren ihre Arbeitszeitmodelle. Andere Betriebe haben diesen Erkenntnisprozess noch vor sich.
Um den Übergang von der Schule in das Berufsleben zu erleichtern, ist in jedem Fall eine in den Schulen früh einsetzende, vor Ort durch das Zusammenspiel diverser Akteure gut strukturierte, Berufsorientierung wichtig, die die Jugendlichen über die zahlreichen Ausbildungsgänge informiert, Wunsch und Wirklichkeit in Einklang bringt und damit zu einer geringen Abbrecherquote beitragen kann. Die Autoren der BiBB-Studie raten zu der Einbindung der Eltern bei der Berufswahl und empfehlen, Abiturienten, die sich bewusst für einen Handwerksberuf entschieden haben, zu Ausbildungsbotschaftern an Gymnasien zu machen, da dies eine emotional wesentlich bedeutsamere Wirkung habe als eine Broschüre.
Statt gegen den Trend zum Abitur anzutreten, sollte nach Auffassung von Klaus Hurrelmann unter einem strukturellen Aspekt alles unternommen werden, um das duale System akademisch anschlussfähig zu machen. Dazu schlägt er vor, dass neben den Gymnasien nur noch integrierte Sekundarschulen angeboten werden, die in ihrer Oberstufe durch die Verkopplung mit dem System der Berufsausbildung einen Übergang in die Hochschule ermöglichen. Dadurch möchte er erreichen, dass eine vorgeschaltete Berufsausbildung für den Übergang in die akademische Ausbildung unter bestimmten Bedingungen sogar förderlich ist.
Neben den demographie- und strukturbedingten Herausforderungen wird vor allem die Digitalisierung Auswirkungen auf die berufliche Ausbildung und auf die Arbeitsplätze haben. Laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung werden in den nächsten 10 Jahren 1.5 Millionen Stellen überflüssig werden, aber zugleich 1,5 Millionen neue Stellen entstehen. Die frei gewordenen Arbeitskräfte werden voraussichtlich nicht die neuen Stellen besetzen können, weil andere Qualifikationen gefordert sind.
Was wir auf der Ebene der beruflichen Ausbildung tun können, ist Berufsbilder und Ausbildungsordnungen dem technologischen Wandel anzupassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Was wir darüber hinaus tun können, ist lernbereit bleiben und offen sein für Neues. Das gilt für den Einzelnen, wie für Handwerksbetriebe und Unternehmen.