Im November und Dezember hielten die „Gilets jaunes“, die Gelbwesten, mit ihren Massendemonstrationen und Straßenblockaden Frankreich in Atem. Auslöser waren steigende Benzinpreise; hinzu kamen im Laufe der Proteste der geballte Zorn über mangelnde Kaufkraft und zu hohe Lebenshaltungskosten, die Furcht vor sozialem Abstieg und die Wut auf die politische Klasse in Paris insgesamt. Mit ihren Massendemonstrationen haben die „Gilets jaunes“ physische und verbale Gewalt als Stilmittel der politischen Auseinandersetzung eingesetzt und zur Durchsetzung ihrer Anliegen gerechtfertigt. Im Zuge der Proteste starben drei Menschen bei Unfällen durch Straßenblockaden, Hunderte wurden verletzt, Hunderte festgenommen. Während Gewaltausbrüche aus den Reihen der Gelbwesten, wie etwa Feuer legen, Scheiben einwerfen oder Läden plündern, bei etlichen Franzosen wohl noch als Kollateralschäden des Protests verbucht wurden, löste der Frontalangriff auf den Pariser Arc de Triomphe, das Denkmal der Siege von Kaiserreich und Republik, und das Bild vom Marianne-Relief mit dem zerschlagenen Gesicht, einen Schock in Frankreich aus. Zeigt dies doch, dass das Grundvertrauen in die Republik brüchig geworden ist.
Macron reagierte mit einer Fernsehansprache an die Nation und verkündete eine sozialpolitische Kehrtwende. Er setzte die Anhebung der Benzinsteuer für mindestens ein Jahr aus, erhöhte den Mindestlohn und befreite Überstunden sowie niedrige Renten von der Besteuerung. Premierminister Edouard Philippe suspendierte darüber hinaus die Erhöhung der Gas- und Strompreise. Mit diesen Wohltaten, die sich in 2019 auf 10 Milliarden Euro addieren, versucht Macron ganz unverhohlen, sich Ruhe und sozialen Frieden zu erkaufen. Bei den Gelbwesten, die Macron diese teuren Zugeständnisse abgerungen haben, stieß seine Rede auf ein geteiltes Echo; sie zeigten sich gespalten.
Während Jacline Mouraud, eine Anführerin der Gelbwesten, einen Fortschritt, eine offene Tür sieht, sagt der Lastwagenfahrer Eric Drouet, der die Proteste in den sozialen Medien angestoßen hat, dass es zu wenig sei und zu spät komme. Er hält Macrons Zusagen für Almosen, die weitgehend an denen vorübergehen, die nicht gerade nur den Mindestlohn verdienen.
Der Zorn der Gelbwesten fokussiert sich auf Macron, den Präsidenten. Durch das Versagen und die dramatischen Verluste der Volksparteien an die Macht gekommen und ausgestattet mit einem überwältigenden Wahlsieg seiner Partei „En Marche“, sollte er als Einzelner alles richten, jetzt ist er als Einzelner an allem schuld. Die Wut auf Macron ist eine Mischung aus persönlichen, sozialen und politischen Aversionen. Sein Versprechen, seine liberalen Wirtschaftsreformen würden von Sozialpolitik begleitet, hat er nicht eingelöst; auch haben seine Reformen Frankreichs Wirtschaftskraft nicht verbessert und nicht zu spürbaren Ergebnissen geführt. Ganz im Gegenteil, die Kaufkraft stagniert bzw. sinkt bei steigenden Steuern. Die Kluft zwischen der Zentralmacht in Paris und der Bevölkerung, vor allem in den abgehängten Städten und Regionen, ist gewachsen. Heftete ihm ohnehin von vornherein schon das Image des arroganten Elitehochschulabsolventen und reichen Ex-Investmentbankers an, so hat er durch seine teils flapsigen, teils abwertenden Bemerkungen über Arbeitslose und seine oft herablassende Art den Eindruck vermittelt, er habe für die Belange der einfachen Leute nur Arroganz und Verachtung übrig. Macron wird so zur Projektionsfläche für alle politischen und sozialen Missstände und zur Zielscheibe, weil er das „Oben“ markiert. Zugespitzt ist der Kampf der Gelbwesten ein Kampf von unten gegen oben, ein Kampf, der Macrons Ruf als Erneuerer und seine Reputation als Reformer arg beschädigt.
Die Gelbwesten errichteten keine Straßenblockaden und zerstörten Banken und Geschäfte, weil sie gegen das kapitalistische System an sich sind. Sie sind von Frust und Wut getrieben und artikulieren ihre Not auf der Straße. Ihre Proteste stellen eine emotionale Entlastung von Zorn angesichts ökonomischer Unsicherheit, ungerechter Vermögensverteilung und der Nichteinhaltung sozialer Mindeststandards dar. Nicht zuletzt dürften ihre enttäuschten Erwartungen hinsichtlich Aufstieg und Sicherheit zu der Verwilderung der sozialen Konflikte geführt haben.
Die Gelbwesten sind in erster Linie eine Bewegung der unteren Mittelschicht, all jener, die nur mühsam über die Runden kommen, aber noch etwas zu verlieren haben. Langzeitarbeitslose findet man wenige unter ihnen. Die „Gilets jaunes“ eint kein politisches Programm, sie fordern keine andere oder bessere Welt. Im Unterschied zu populistischen Bewegungen, wie etwa Pegida, geben sie sich nicht als „das Volk“ aus. Sie bleiben auf Abstand zu den Gewerkschaften ebenso zu rechten und linken Oppositionsparteien, die von ihnen zu profitieren versuchen und deren Unterstützung vor allem auf eine gemeinsame Allianz gegen Macron abzielt. Führungsfiguren, Verbindlichkeit und eine organisierte Struktur fehlen, von daher muss sich erst erweisen, ob die „Gilets jaunes“ künftig überhaupt eine politische Rolle spielen. Auch wenn ihre Forderungen widersprüchlich und unübersichtlich, ihre Ziele disparat sind, so haben die Gelbwesten Macron doch zum Nachgeben gezwungen und ihre Not einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt. Ihre Lebensumstände und diverse Einzelschicksale, die sonst nie öffentlich sichtbar werden, haben sie in das grelle Licht der Öffentlichkeit gezogen, so dass eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Dezember lautete: „Das ungehörte Frankreich gibt Laut“.
Trotz aller Unterschiede und Individualität gibt es eine gemeinsame Forderung, das ist die nach Respekt. Die „Gilets jaunes“ kritisieren die Gleichgültigkeit gegenüber ihren Sorgen und die geringschätzige Haltung gegenüber Schwachen und weniger Gebildeten. Es ist das Gefühl missachtet, abgehängt und ungerecht behandelt zu werden. Es ist die Empörung über die nachhaltige Aussortierung und Erniedrigung, mit der ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisiert werden, die die „Gilets jaunes“ gegen Macron und die Pariser Eliten aufgebracht hat. Es ist vor allem auch ein Kampf um Anerkennung.
Die Situation in Frankreich dürfte mit der in Deutschland kaum vergleichbar sein. Die Präsidialdemokratie und die Auflösung des Parteiensystems sind spezifisch für Frankreich. Gleichwohl finden sich europaweit durchaus vergleichbare, wenn auch jeweils nationalspezifisch ausgestaltete Strukturelemente. Denn der Kern der Gelbwesten-Bewegung ist eine Rebellion gegen die neoliberalen Zumutungen der letzten Jahre, gegen die Folgen der Globalisierung , gegen die Entwertung des eigenen Lebensstils und gegen das Empfinden , eine global agierende Elite verteile den Reichtum unter sich. Die soziale Zerklüftung trifft viele Länder der westlichen Welt und trägt dazu bei, das Modell der liberalen westlichen Demokratien zu zersetzen, Ressentiments gegen Fremde zu schüren sowie die Sehnsucht nach homogenen Volksgemeinschaften und fein säuberlich abgezirkelten Nationalstaaten zu stärken. Auch wenn das Aufbegehren der „Gilets jaunes“ spontan und episodisch bleibt, so werden die politische Entfremdung und die gesellschaftliche Spannung anhalten, solange ein fest zementiertes Prekariat und die Malaise der verarmten bzw. verarmenden Mittelschicht bestehen. Solange die „Dynamik der Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey) nicht außer Kraft gesetzt ist, etwa durch tiefgreifende Strukturreformen, bleibt das Modell der westlichen Demokratien gefährdet.