Der in vielen Branchen und Regionen spürbare Fachkräftemangel wird zunehmend zu einer veritablen Wachstumsbremse. Die demographische Entwicklung sollte eigentlich zu einem übergreifenden Schwerpunktthema in der politischen Debatte werden und damit die Frage, wie Deutschland in den kommenden Jahren und Jahrzehnten seinen Bedarf an Arbeitskräften noch decken kann. Die Faktenlage ist klar: Ab 2025 geht die Generation der Baby-Boomer peu à peu in Rente und Pension, die folgenden Alterskohorten haben deutlich niedrigere Geburtenziffern. Mithin ein ziemlicher Umbruch, dessen Vorläufer bereits vielerorts zu besichtigen sind.
Nach 9 Jahren des Aufschwungs sind Arbeitskräfte knapp und 1,5 Millionen Stellen unbesetzt. Über Jahrzehnte stand die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ganz oben auf der politischen Agenda, Fachkräftemangel war hingegen lange kein Thema. Veränderte Herausforderungen erfordern nunmehr veränderte Strategien, wenn nicht sogar einen Paradigmenwechsel. Es fehlt jedoch mindestens so sehr an Visionen, wie das Land in 10 Jahren aussehen könnte, wie an zupackendem Handeln.
Bereits heute fehlen Wirtschaft, Handwerk und Kommunen Zigtausende Fachkräfte. Laut Prognosen wird die Justiz bis 2030 10.000 Richter und Staatsanwälte verlieren, bundesweit werden 11.000 Ärzte fehlen; Ärzte im öffentlichen Gesundheitswesen sind ohnehin schon knapp. Im Landkreis Peine, zum Beispiel, werden mehr als die Hälfte der Hausärzte und der Fachärzte altersbedingt bis 2030 ausscheiden. Nach Schätzungen des deutschen Jugendinstituts werden bis 2025 etwa 300.000 Erzieherinnen benötigt. Allein in Niedersachsen konnten 100 Kita-Gruppen in 2018 nicht geöffnet oder mussten geschlossen werden, weil Personal fehlte. In der Pflege sind bis 2030 rund 500.000 zusätzliche Pflegekräfte nötig, 25.000 Stellen sind derzeit in der Altenpflege nicht besetzt. Lehrer und Lehrerinnen fehlen vor allem an Grund- und Förderschulen, aber auch 60.000 bis 2030 an Berufsschulen.
Mehr als 800.000 Stellen in den Kommunen könnten in den nächsten Jahren unbesetzt sein, schreibt die DStGB-Fachzeitschrift „Kommunal“ und warnt vor einem Kollaps der Kommunalverwaltungen. In den kommenden 10 Jahren geht ein Drittel der Beschäftigten in Gemeinden, Städten und Landkreisen in den Ruhestand. Ob klassische Verwaltung, Bauamt, IT, Müllabfuhr oder Kläranlagen – in nahezu allen Sparten fehlen Leute.
In der Logistikbranche gibt es zwischen 45.000 und 60.000 Fahrer zu wenig , schätzt der Bundesverband Güterverkehr, Logistik und Entsorgung. In den kommenden zwei Jahren fehlen rund 200 Lokführer. Ebenso sucht das Handwerk händeringend nach ausgebildeten Fachkräften und geeigneten Auszubildenden, da immer mehr junge Leute ein Studium beginnen. Betriebe müssen Aufträge schieben oder ablehnen, weil qualifizierte Kräfte fehlen. Im ganzen Land dringend gesucht werden Mitarbeiter in den Bauberufen, in der Energietechnik sowie Klempner; Fleischer und Bäcker haben Nachwuchssorgen und darüber hinaus dauert es in einigen Branchen sehr lange, Stellen zu besetzen. Rund ein halbes Jahr bleiben derzeit Handwerkerstellen für Klempner, Sanitär, Heizung oder in der Energietechnik unbesetzt. Die Liste der fehlenden Fachkräfte ließe sich mühelos fortsetzen…
Die Engpässe sind regional und branchenspezifisch unterschiedlich, wobei es renommierten Unternehmen und Ballungsräumen wie München, Hamburg oder Frankfurt noch leichter fällt, Fachkräfte zu gewinnen; andererseits besteht dadurch die Gefahr, dass ganze Regionen abgehängt werden. Der Konkurrenzkampf und der Wettbewerb um die besten Köpfe, und vor allem um den Nachwuchs, ist jedenfalls flächendeckend und branchenübergreifend entbrannt. Die Folgen des Fachkräftemangels sind ja inzwischen auch unübersehbar: Schließung von neu errichteten Kitas, schlechter Betreuungsschlüssel und Verlust an Qualität in den Kitas, ausfallender Schulunterricht, Ablehnung von neuen Patienten in der ambulanten Pflege, verstärkter Medikamenteneinsatz in der Pflege aufgrund des Personalmangels, Investitionsstau bei Schulen und Straßen wegen fehlender Planungs- und Baukapazitäten, lange Wartezeiten bei Aufträgen an Handwerker, etc.
Die geburtenstarken Jahrgänge gehen aber erst noch in den Ruhestand. Daher: Ohne Migration geht es nicht. Das ist das Ergebnis einer von der Bertelsmann Stiftung beauftragten Studie. Deutschland hat danach bis 2060 einen jährlichen Einwanderungsbedarf von mindestens 260.000 Menschen. Das Angebot an Arbeitskräften wird laut Studie angesichts der alternden Gesellschaft ohne Migration bis zum Jahr 2060 um rund 16 Millionen Menschen – also um fast ein Drittel – schrumpfen. Nur mit Hilfe von Zuwanderung lässt sich der demographisch bedingte Rückgang des Arbeitskräfteangebots auf ein für Wirtschaft und Handwerk verträgliches Maß begrenzen. Es ist zu erwarten, dass im Jahresdurchschnitt rund 114.000 Zuwanderer aus anderen EU-Staaten kommen werden und rund 146.000 Personen aus Nicht-EU-Ländern einwandern müssten. Die Studie berücksichtigt die Potenziale der einheimischen Bevölkerung. Die Forscher unterstellen eine zukünftig höhere Geburtenrate sowie mehr Frauen und ältere Menschen im Arbeitsmarkt. Doch selbst wenn Männer und Frauen gleich viel arbeiteten und eine Rente mit 70 eingeführt würde, könnte der Fachkräftebedarf nicht mit inländischen Arbeitskräften gedeckt werden. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, fasst es so zusammen: „Migration ist ein zentraler Schlüssel zu einer gelingenden Zukunft. Deutschland braucht Fachkräfte – auch aus Regionen außerhalb Europas.“
Mit einem Zuwanderungsgesetz sollen die Menschen gesucht und gefunden werden, die Deutschland braucht, um seinen Lebensstandard bei schrumpfender Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Insofern wurde mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz – gerade auch von Wirtschaft und Handwerk – die Erwartung verknüpft, dass es eine unkomplizierte Einwanderung von Fachkräften ermöglicht. Horst Seehofer machte daraus ein „Migrationspaket“, das Rechte von Flüchtlingen einschränkt und Abschiebungen erleichtert – obwohl Asylpolitik und Zuwanderung bzw. Migrationsrecht zwei gänzlich unterschiedliche Paar Schuhe sind – , senkte in dem Gesetz aber auch die Hürden für Zuwanderer aus Ländern außerhalb Europas. Aber eben nur für diejenigen, die eine Berufsausbildung und ausreichend Deutschkenntnisse vorweisen können und für diejenigen, die in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, wenn sie noch keinen Arbeitsplatz haben. Ferner wurde die Vorrangprüfung abgeschafft.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist kein großer Wurf, bestenfalls ein Reförmchen, ein Bürokratiemonster mit vielen Wenns und Abers, das Einwanderung nicht als Notwendigkeit begreift und sie auch nicht als Chance sieht. Selbst nach Einschätzung der Regierung kämen aufgrund des Gesetzes höchstens 25.000 Fachkräfte pro Jahr nach Deutschland. Viel zu wenig zur Sicherung des Wohlstands und zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme.
Das Mantra der Rückführung wird in dem Gesetz mit der Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften vermengt und mit der einfachen Formel ‚weniger Ausländer, weniger Probleme‘ als politisches Krisenlösungsmodell präsentiert. Statt für die notwendige Zuwanderung Akzeptanz zu schaffen und Einwanderung einzubetten in eine Gesamtstrategie, die inländische Potenziale berücksichtigt, lässt Politik Ressentiments aufleben und knickt vor der rassistischen Dauerbeschallung ein. Abgelenkt wird dadurch von gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen, die nicht angegangen werden. Zu Lasten unseres künftigen Lebensstandards.
Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz sind bundesweit die Rahmenbedingungen für die kommenden Jahre gesetzt. Branchen- und regionsbezogen werden allerdings schon seit einigen Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, gut qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen bzw. zu halten. So hat beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit das Programm „Triple Win“ aufgelegt, das Pflegefachkräfte aus Drittstaaten rekrutiert, das Land Thüringen sucht Auszubildende in Vietnam und ländlich strukturierte Regionen werben mit Stipendien und finanziellen Anreizen um Ärzte oder haben sich zu Fachkräfteallianzen zusammengeschlossen. Arbeitgeber erhöhen ihre Attraktivität, indem sie Gehälter anheben, Zulagen und Aufstiegschancen anbieten, mit Weiterbildung, Gesundheitsmanagement und flexiblen Arbeitszeitmodellen werben, PR-Aktivitäten starten, auf Messen gehen, etc. Gerade in den sozialen Berufen wäre eine bessere Bezahlung das richtige Signal. Wenn aber für eine Pflegefachkraft im Gesundheitswesen eine Abwerbeprämie von 8.000 Euro geboten wird, macht dies deutlich, dass der zu verteilende Kuchen nicht für alle reicht.
Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft identifiziert 19 Regionen, die vor massiven Zukunftsproblemen stehen. Abwanderung, Überalterung der Bevölkerung, hohe Verschuldungsraten und Unzufriedenheit mit der Infrastruktur sind beherrschende Themen für diese Regionen. Wenn Investitionen in die Infrastruktur von Mobilität und Digitalisierung sowie eine Verbesserung der Bildungsangebote nicht mehr geleistet werden können, potenziert die demographische Entwicklung die Problemlagen und damit das Risiko des Abgehängtwerdens. Räumliche Ungleichgewichte und zunehmende gesellschaftlichen Spannungen sind die Folge.
Wird in 10 Jahren jemand daran denken, dass mit einem überzeugenden Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Weichen ökonomisch, politisch und gesellschaftlich hätten anders gestellt werden können?