Gesundheitswesen im Wandel, quo vadis?

Im Gesundheitswesen kneift es für Patienten spür- und unübersehbar an etlichen Stellen: Hausarztpraxen sind überfüllt, Facharzttermine rar, Notfallambulanzen von Patienten mit Bagatellkrankheiten überlaufen und Pflegefachkräfte ein nicht ausreichend vorhandenes Gut. In der Tat sind die Herausforderungen für unser komplexes, sektoral aufgestelltes Gesundheitssystem, in dem jeder in seiner eigenen Welt lebt, enorm.

Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen wird allein schon durch den demographischen Wandel zunehmen, denn die Zahl der Älteren und Hochbetagten steigt. Wohingegen das Leistungsangebot der niedergelassenen Ärzte sinken wird, begründet durch veränderte Erwartungen (geregelte Arbeitszeiten, Teilzeitstellen) des überwiegend weiblichen Nachwuchses sowie durch altersbedingtes Ausscheiden ohne Nachfolgelösung. Strukturell haben wir in Deutschland ein Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung. Ballungsgebiete sind häufig überversorgt, ländliche Regionen hingegen von Alterung und Unterversorgung bedroht, was insbesondere die Landkreise zur Sicherstellung der Daseinsvorsorge unter Wettbewerbsdruck setzt. Mindestens 6.000 Medizinstudienplätze fehlen pro Jahr. Hinzu kommt nicht selten eine Schieflage von ambulanter und stationärer Versorgung. Noch wieder andere Herausforderungen für das Gesundheitssystem liegen in dem medizinischen Fortschritt, der weiteren Handlungsbedarf auslösen wird, und in der Digitalisierung, die den Beruf des Arztes und dessen Beziehung zum Patienten verändern wird.

Vorboten für veränderte Strukturen im Gesundheitssystem gibt es bereits. Lange Wartezeiten und völlig überfüllte Wartezimmer in den Notaufnahmen sollen ebenso der Vergangenheit angehören wie die Quasi-Parallelstrukturen von Notfallaufnahmen und ärztlichem Bereitschaftsdienst. Was bisher in Projekten ausprobiert wurde und vom Engagement der jeweiligen Kassenärzte und Krankenhausträger abhängig war, die Zusammenarbeit zwischen Klinik, Hausarzt und Rettungsstelle, soll verbindlich gemacht werden. Gesundheitsminister Spahn plant eine umfassende Reform der Notfallversorgung. Künftig soll es gemeinsame Notfallleitstellen von Rettungsdiensten und niedergelassenen Ärzten geben, die alle Anrufe abarbeiten, die über den Notruf 112 und die Bereitschafts-Hotline 116117 kommen. An Krankenhäusern sollen in gemeinsamer Verantwortung von niedergelassenen Ärzten und Kliniken Notfallzentren eingerichtet werden, um Patienten direkt an die richtige Stelle zu leiten. So ausgestaltet, könnte der Notfallversorgung eine Pilotfunktion für die sektorenübergreifende Zusammenarbeit zukommen.

Als Ausweg aus dem Ärztemangel wird immer wieder die Digitalisierung angeführt, E-Health und Telemedizin als mögliche Heil- und Hilfsmittel gegen drohenden Ärztemangel. Tatsächlich liegt in der Digitalisierung ein Potenzial, dessen Ausmaß wir derzeit nicht wirklich abschätzen können.

Probeläufe unterschiedlichster Art gibt es schon. Der Einsatz von Assistentinnen, die mit einem Telerucksack voller Übertragungsgeräte die Patienten zu Hause aufsuchen und ihren Gesundheitszustand überprüfen, erweitert die ärztlichen Möglichkeiten. So hat der Arzt eine Vielzahl von Patienten im Blick, ohne sich ständig mit ihnen befassen zu müssen. Zeigt sich Handlungsbedarf, kann er per Videokonferenz gezielt eingreifen. Hier bietet sich ein echter Mehrwert für ländliche Regionen. Eine Entlastung bei Hausbesuchen bietet auch das Modell Verah (Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis). Dabei handelt es sich um speziell ausgebildete medizinische Fachangestellte, die delegierbare hausärztliche Tätigkeiten übernehmen, Hausbesuche machen und, wenn erforderlich, dem Hausarzt sofortige technikunterstützte Rückmeldung geben können.

Einen Schritt weitergehend ist die Behandlung per Videosprechstunde oder Online Chat. Modellprojekte dazu gibt es in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Seit Mai übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Behandlung; Telemedizin als Regelleistung gibt es aber praktisch nicht. Besonders auf dem Land könnte die telemedizinische Behandlung Lücken in der Versorgung schließen. Denn Projekte zeigen, was Telemedizin leisten kann und wie sie die Versorgung und Lebensqualität vieler Menschen verbessern könnte. Die wenigen Projekte können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland Nachholbedarf hat und weit davon entfernt ist, dass Telemedizin zu einer zusätzlichen Säule des Gesundheitswesens wird.

In den USA, der Schweiz oder Skandinavien ist Telemedizin nichts Ungewöhnliches mehr. 2.000 bis 5.000 Menschen rufen täglich im größten telemedizinischen Zentrum Europas, bei Medgate in der Schweiz, an. Am Ende der Leitung sitzen Allgemeinmediziner und Fachärzte. Die Diagnose wird am Telefon gestellt, das Rezept geht an die vom Patienten gewünschte Apotheke. In Deutschland scheitert es schon daran, dass Rezepte immer noch auf Papier gedruckt werden…

Erst 2021 soll die elektronische Patientenakte allen gesetzlich Versicherten zur Verfügung stehen. Auf ihr gespeichert sind Medikation und Notfallplan, bei Bedarf verfügbar sind Befunde, Diagnosen, Therapiemaßnahmen, Impfungen etc. Damit ist eine fall- und einrichtungsübergreifende Dokumentation möglich; Doppeluntersuchungen und -befundungen gehören damit der Vergangenheit an. Die elektronische Patientenakte wird dann das Kernstück einer Telematikinfrastruktur bilden, in der alle Beteiligten im Gesundheitswesen miteinander vernetzt sind: Ärzteschaft, Kliniken, Pflege, Administration, Apotheken, Psychotherapeuten, Krankenkassen. Die elektronische Akte erleichtert die Online-Kommunikation, beispielsweise durch Telekonsile, und die vernetzte Zusammenarbeit zwischen Ärzten verschiedener Fachrichtungen; sie lädt zu Verbünden von Haus- und Facharztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken ein, bedingt dabei, dass der Arzt sich vom Einzelkämpfer zum Teamplayer entwickelt. Noch ist sie technisch nicht ausgereift und störungsanfällig, auch fehlt die erforderliche breite Akzeptanz bei Ärzten und Patienten. Kritiker bemängeln, dass angesichts der Datenflut ihr tatsächlicher Nutzen zu wenig belegt sei. Befürchtungen gehen auch in Richtung Datensicherheit bzw. Datenlecks und damit einhergehend eines Kontrollverlusts über die eigenen Gesundheitsdaten. Nutznießer der digitalen Aufrüstung würden vor allem die IT-Konzerne sein. Demgegenüber verweisen die Befürworter auf die Chancen der Digitalisierung, u.a. auf die medizinische Versorgung der Patienten über große Distanzen, auf optimierte Abläufe, auf den medizinischen Fortschritt, etwa bei Operationsrobotern oder auf die Erleichterung der Arbeit in der Pflege.

Die sinnvolle und zukunftsweisende Entwicklung von Gesundheitsinfrastrukturen stellt sich in diesem Zusammenhang eher als ein kulturelles denn ein technologisches Problem dar. Es fehlt ein öffentlicher Diskurs darüber, welche gesellschaftlichen Mehrwerte durch die Anwendung digitaler Technologien und Dienstleistungen langfristig erreicht werden sollen.

Von ganz anderer Seite brachte eine vom Institut für Gesundheits- und Sozialforschung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte Studie Bewegung in die Diskussion um den Ärztemangel. Die Studie hatte anhand der Beispielregion Köln/Leverkusen aufgezeigt, wie viele Krankenhäuser mit welchen Versorgungsangeboten zur bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung notwendig sind. Flugs wurde die an einem Ballungsraum orientierte Zahl auf Deutschland hochgerechnet und heraus kam, dass von derzeit knapp 1.400 Krankenhäusern nur weniger als 600 erhalten bleiben sollten. Die verbleibenden Häuser könnten dann mehr ärztliches und pflegendes Personal und eine bessere Ausstattung erhalten.

Nur Kliniken mit größeren Fachabteilungen und mehr Patienten haben genügend Erfahrung für eine sichere Behandlung, zudem rund um die Uhr besetzte Facharztstellen, heißt es in der Studie. Aktuell hat ein Drittel der deutschen Krankenhäuser allerdings weniger als 100 Betten. Viele Komplikationen und Todesfälle ließen sich durch eine Bündelung von Ärzten und Pflegepersonal sowie Geräten in weniger und größeren Krankenhäusern vermeiden. Dabei hängt die Qualität der Versorgung wesentlich von der Häufigkeit von Eingriffen und Behandlungen ab. Speziell bei lebensbedrohlichen Notfällen, wie Herzinfarkt und Schlaganfall oder bei komplexen Erkrankungen, kommt es darauf an, dass auch die notwendige medizintechnische Infrastruktur zur Verfügung steht. In der Konsequenz bedeutet dies das Schließen nicht bedarfsnotwendiger Einrichtungen, die weder Mindestmengen noch Qualitätsanforderungen erfüllen.

Auch das Thema der schnellen Erreichbarkeit relativiert die Studie. Die schnelle Erreichbarkeit eines kleinen Krankenhauses sei nur ein vermeintlicher Vorteil. Wenn dort kein Facharzt verfügbar sei, habe die Klinik einen gravierenden Qualitätsnachteil. Selbstverständlich müsse aber die Fläche vernünftig abgedeckt werden, damit die Wege nicht zu weit werden.

Die Bundesärztekammer reagierte ablehnend auf die Ergebnisse der Bertelsmann-Stiftung. Ihr Präsident, Klaus Reinhardt, sagte: „Wer auch immer mit welchen Ideen den Krankenhaussektor verändern will, muss dem grundgesetzlichen Auftrag der Daseinsvorsorge, der Gleichheit der Lebensverhältnisse und dem Feuerwehr-Prinzip der Krankenhäuser im Katastrophenfall gerecht werden.“

Allerdings gerät die stationäre Versorgung noch von einer anderen Seite unter Druck. Der medizinische Fortschritt verschiebt immer mehr Leistungen in die ambulante Versorgung und erzwingt auf der anderen Seite eine immer stärkere Spezialisierung der einzelnen Häuser. Nach Ansicht der Wissenschaftler des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung könnten etwa 5 Millionen Patienten pro Jahr genauso gut ambulant behandelt oder operiert werden. Die Zahl der Krankenhausfälle ließe sich so deutlich senken.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen unterstützt in einer Stellungnahme die Ergebnisse der Bertelsmann-Stiftung: „Kliniken erbringen nachweislich viele Leistungen besser und sicherer, wenn sie diese häufig durchführen, personell gut aufgestellt sind und auch für Komplikationen optimal gerüstet sind. Dies ist wissenschaftlich gut belegt.“ Anders formuliert, ein Kapazitätsabbau führt zu einer insgesamt höheren Qualität.

In einem Gutachten aus dem Jahr 2018 plädiert der Sachverständigenrat für eine bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Statt wie bisher anbieter- und sektororientiert soll die Gesundheitsversorgung sektorübergreifend und populationsorientiert erfolgen. Ambulante und stationäre Versorgung sollen ineinander greifen; auf regionaler Ebene gibt es dann lokale Gesundheitszentren für die Primär- und Langzeitversorgung, regionale Arztnetze, Gesundheitsnetze, IT-gestützte Versorgungspfade für Patienten, integrierte Versorgungsroutinen inklusive Arzneimittelversorgung und Pflege sowie eine sektorübergreifende Qualitätssicherung, insgesamt also eine nahtlose sektorenübergreifende Integration. Zielperspektive ist eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, die auf einer entsprechenden sektorübergreifenden Bedarfsplanung beruht. Dazu bedarf es allerdings eines grundlegenden ordnungspolitischen Rahmens. Ob die Politik auf Bundes- und Länderebene den Mut dazu aufbringt?

Die Neuordnung der Krankenhauslandschaft, wie durch die Bertelsmann-Stiftung nahegelegt, wäre ein Schritt in Richtung Bedarfsplanung. Eine integrierte Versorgung dürfte zu Lobbyauseinandersetzungen zwischen den Interessen der 172.000 Praxismediziner und Psychotherapeuten und den rund 1.400 Krankenhäusern führen, denn es geht um Patienten und Milliardenvergütungen. Auch hier bedarf es eines regulatorischen Rahmens. Zu beobachten wird sein, ob in einem dank IT und KI boomenden Gesundheitsmarkt, Digitalisierung und Ökonomisierung als Impuls- und Taktgeber das Gesundheitssystem treiben oder ob Politik den Mut und die Kraft  aufbringt, das Gesundheitssystem zu gestalten.

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