Mit Beginn November 2019 ist der neue Pflege-TÜV gestartet, der den 2009 eingeführten Pflege-TÜV ablöst. „Leider war der bisherige Pflege-TÜV eine Farce“, räumte selbst Bundesgesundheitsminister Spahn ein. Denn die 13.000 Heime erhielten durchweg beste Bewertungen, deutschlandweit die Schulnote 1,2 , bei einem Benotungssystem von eins bis fünf. Defizite, wie schlechte Haut- oder Wundpflege, Mängel in der Schmerztherapie oder in der Medikamentenvergabe konnten in der Bewertung durch andere Kriterien ausgeglichen werden. Darunter: schöne Grünanlagen, ein guter Speiseplan, jahreszeitliche Feste. Das erklärt die Bestnoten.
2015 setzte die Bundesregierung die Pflegenoten aus. Heimbetreiber und Krankenkassen erhielten von der Politik den Auftrag, ein neues Prüfverfahren zu entwickeln. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen sollten besser erkennen können, welche Qualität ein Pflegeheim hat. Das Ergebnis ist der neue Pflege-TÜV, der deutlich differenzierter angelegt ist und der bis Ende 2020 Aufschluss über die Qualität aller Einrichtungen geben soll. Die Prüfberichte werden auf den Pflegeheim-Portalen der Krankenkassen veröffentlicht.
Die Bewertung fußt auf drei Säulen, eine ist der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK). Die Gutachter des MDK besuchen jede Einrichtung einmal im Jahr; sie überprüfen mit einer Stichprobe bei neun Bewohnern je Heim, wie der Pflegezustand und die Versorgung im Einzelfall sind. Erfasst werden 16 Kriterien. Zudem führt der MDK anhand von Leitfragen Gespräche mit den Pflegekräften. Die dabei gewonnenen Informationen werden für jedes Kriterium auf einer vierstufigen Skala dargestellt, die von „keine oder geringe Qualitätsdefizite“ bis „schwerwiegende Qualitätsdefizite “ reicht.
Eine zweite Säule stellen die internen Qualitätsprüfungen dar, die im Wesentlichen auf reiner Datenerfassung beruhen. Die Pflegeheime müssen zu 15 Kriterien die Daten von allen Bewohnerinnen und Bewohnern melden. Dabei wird u.a. erfasst, wie viele Heimbewohner und Heimbewohnerinnen sich wund gelegen haben, gestürzt sind oder stark an Gewicht verloren haben. Diese Werte werden durch eine zentrale Datenstelle auf Plausibilität geprüft und anschließend mit allen anderen Einrichtungen verglichen. Dieser Vergleich wird für alle Kriterien in Form einer Skala mit maximal fünf Punkten von „weit über dem Durchschnitt“ bis „weit unter dem Durchschnitt“ veröffentlicht.
Drittens liefern die Einrichtungen freiwillige Angaben, z.B. über ihre Ausstattung, die Größe der Zimmer, die Höhe des Eigenanteils. Insgesamt entsteht ein umfassender Prüfbericht mit mehr als 30 Qualitätskriterien und mehr als ein Dutzend Seiten. Auf Gesamtnoten, die als Durchschnitt der Einzelbewertungen gebildet werden, wird verzichtet. Ein schneller Vergleich über eine Gesamtnote, wie früher möglich, ist beim neuen Pflege-TÜV nicht mehr vorgesehen. Daher dürfte sich der neue TÜV im Bedarfsfall kaum als schnelle und eindeutige Entscheidungshilfe eignen.
Zwar werden beim neuen Pflege-TÜV mehr Informationen zur Qualität der jeweiligen Einrichtung sichtbar, moniert wird jedoch neben der fehlenden Vergleichbarkeit und der fehlenden Übersichtlichkeit auch die fehlende Gewichtung der Kriterien. Eugen Brych, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, fordert daher: „Wenn Heime bei der Schmerztherapie, der Wundversorgung, dem Umgang mit Fixierung oder der Medikamentenvergabe durchfallen, muss das sofort erkennbar sein“. Auch aus der Politik kommt der Ruf nach einer einfacheren und kompakteren Darstellung. Denn nur wenige werden sich die Mühe machen nachzulesen und zu vergleichen. Der Wahl eines Pflegeheims geht nur in seltenen Fällen eine Phase intensiver Auseinandersetzung voraus. Meist musss binnen Tagen eine Lösung her und dann spielen oft andere Kriterien eine Rolle: Wie nahe liegt das Heim am Wohnort oder am Arbeitsplatz der Angehörigen? Ist schnell ein Platz verfügbar? Und ist er auch bezahlbar? Ein übersichtlicher Prüfbericht wäre für eine rasche Vergleichbarkeit da schon hilfreich.
Die Möglichkeit mangelhafte Heime zu sanktionieren, sieht das neue System ausdrücklich nicht vor. Auflagen bzw. Sanktionen bleiben den Krankenkassen und der Heimaufsicht der Kommunen vorbehalten. Die Initiatoren des Pflege-TÜV erhoffen sich vielmehr einen intensiven Dialog mit den Pflegekräften der Einrichtungen, um gemeinsam den Ursachen für festgestellte Missstände auf die Spur zu kommen. Durch permanente Selbstkontrolle soll sich die Pflegeleistung verbessern. Das dafür gewählte Verfahren, das sich mit Bruchstücken aus dem Qualitätsmanagement bedient, ist jedoch nicht frei von Mängeln. Ob Schwachstellen in dem Dialog mit Pflegekräften wirklich zutage gefördert werden, darf mit einem Fragezeichen versehen werden, denn in kritischen Fällen dürfte die Loyalität mit dem Arbeitgeber vorgehen. Die Strukturqualität kommt bei dem gewählten Vorgehen so gut wie gar nicht vor, also etwa Zahl und Qualifikation der Pflegekräfte oder existierende Mindestanforderungen, obwohl die in den Einrichtungen jeweils vorhandenen Ressourcen mittelbar die Ebene der Dienstleistungserbringung beeinflussen. Negativ spürbar ist das etwa, wenn Altenheimbewohner und Altenheimbewohnerinnen auf Grund des hohen Zeitdrucks und der hohen Fallzahlen einfach nur abgefertigt werden. Auch entsteht der Eindruck, dass die Abwesenheit von Mängeln die Prüfer des MDK schon zufrieden stellt, denn eine Qualitätsentwicklung in den Heimen wird nicht explizit gefordert. Damit fällt der neue Pflege-TÜV hinter § 113 des SGB XI zurück, der ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement vorschreibt, das auf eine stetige Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität ausgerichtet ist. Zu einem einrichtungsinternen Qualitätsmanagement gehören im Übrigen auch die Sichtweisen von Ärzten und Angehörigen sowie die Beteiligung der Bewohner und Bewohnerinnen, ferner Ziele und Konzepte. Warum setzt der neue Pflege-TÜV nicht an dem einrichtungsinternen Qualitätsmanagement an, das über die Pflegequalität hinausgeht und die gesamte Einrichtung in den Blick nimmt? Warum verlangt man nicht durchgängig eine externe Zertifizierung der Einrichtungen, wie sie von Trägern von Maßnahmen der Agentur für Arbeit und der Jobcenter verlangt wird?
Einer rein internen Selbstevaluation fehlt ein gesetzter Rahmen; sie zielt auf die Selbstentwicklungsfähigkeiten der Einrichtung. Bei gut aufgestellten Heimen mag das funktionieren, bei Heimen mit Mängeln fehlt es dem neuen Pflege-TÜV an entsprechenden Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten. Dies bleibt umso unverständlicher, weil es ältere Menschen betrifft, die allein nicht mehr zurecht kommen, sich nicht mehr selbst helfen können und die auf die gute Qualität „ihrer“ Einrichtung angewiesen sind. Ein Pflege-TÜV, bei dem die Krankenkassen und Pflegeheime die Prüfkriterien wesentlich mitbestimmen, ist ein gewollt stumpfes Schwert. Es wird unterschlagen, dass es ein gesellschaftliches Interesse an guten und bezahlbaren Altenheimen gibt und eben auch geben muss.
Deutschlands oberster Pflegekritiker, Claus Fussek, würde den neuen Pflege-TÜV ohnehin am liebsten umgehend beerdigen. Denn seiner Auffassung nach bewirkt der neue TÜV bei viel bürokratischem Aufwand zu Lasten der Pflegekräfte keine Verbesserungen in der Pflege. Angehörige hätten bei der Auswahl von Pflegeheimen ohnehin keine Wahl, denn die guten Heime haben laut Fussek lange Wartelisten. Darin steckt auch ein Gerechtigkeitsproblem. Denn Wohlhabende sind im Alter besser versorgt, da sie sich die guten Heime leisten können.
Der neue Pflege-TÜV ist zweifellos besser als der alte, der ja auch gänzlich unbrauchbar war. Doch die Probleme liegen tiefer. Denn faktisch haben wir einen Pflegenotstand, dem mit Aufnahmestopps und der hektischen Suche nach Pflegekräften in Mexiko, im Kosovo oder auf den Philippinen begegnet wird. In Deutschland fehlen 80.000 Pflegekräfte. Die Abbrecherquote bei Auszubildenden ist extrem hoch und nach der Ausbildung wechseln viele zudem noch den Beruf. Missstände in den Heimen sind oft mehr oder weniger direkte Folge der Personalnot. Es ist allerdings nicht nur eine Frage der Quantität. Die Münchner Ethik-Professorin Constanze Giese führt dazu aus, dass es für die anspruchsvolle Tätigkeit der Altenpflege die besten und kritischsten Köpfe bräuchte. Stattdessen würden die „schwächsten Bewerberinnen, die der Arbeitsmarkt zu bieten hat“, in die Pflege gedrückt, “ die abhängigsten, alternativlosesten, diejenigen, die die Ausbildungen kaum bewältigen und die deutsche Sprache kaum sprechen“.
Folgerungen aus dieser Diagnose können nur sein: mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, eine bessere Bezahlung, dafür als Grundvoraussetzung endlich ein allgemein verbindlicher Tarifvertrag sowie mehr Wertschätzung und gesellschaftliche Anerkennung für den Pflegeberuf. Alten- und Pflegeheime gehören ebenso wie Kliniken zur Daseinsvorsorge. Dies bedeutet nicht zuletzt, dass mehr Geld in das System fließen muss. Ein Schritt dazu wäre, die Pflegeversicherung in eine Vollversicherung umzuwandeln. Die Zeit drängt, denn die demographische Entwicklung wird bestehende, bis dato nicht gelöste Probleme verschärfen.