Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zu Hartz IV ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert. Hartz IV, oder korrekter das Arbeitslosengeld II, soll mit seinen Regelsätzen und Leistungen das menschenwürdige Existenzminimum abbilden. Jede Minderung des Existenzminimums führt also in der Folge dazu, dass existentielle Bedarfe nicht gedeckt werden können und die Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft, insbesondere auch Kinder, darunter zu leiden haben. Darf der Staat eine Leistung überhaupt kürzen, die definitionsgemäß an der Untergrenze dessen liegt, was der Mensch zum Leben braucht? Wenn dies eine Logikfrage wäre, müsste man sie wohl verneinen. Ist es aber nicht. Es ist eine gesellschaftliche, eine politische Frage: „Wie wollen wir mit Langzeitarbeitslosen in unserer Gesellschaft umgehen?“ Dies ist politisch und gesellschaftlich umstritten, daher ist es auch eine Frage an die Judikative.
15 Jahre waren Sanktionen tägliche Praxis in den Jobcentern; sie waren und sind eine Säule des Grundprinzips „Fördern und Fordern“. Ohne Sanktionen würde die Fordern-Säule wegbrechen und ein gänzlich neues System erforderlich machen. Vor diesem Hintergrund wurde das Bundesverfassungsgericht in einem Einzelfall angerufen. Im November 2019 hat es die bestehenden Hartz IV-Sanktionen für teilweise verfassungswidrig erklärt, was einer kräftigen Ohrfeige für die Politik gleichkommt, die Praxis der Sanktionierung jedoch für zulässig erklärt. Es ist verfassungswidrig, tangiert die Menschenwürde und ist demnach mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, hilfebedürftigen Leistungsempfängerinnen und -empfängern die staatliche Unterstützung ganz oder zu großen Teilen zu streichen. Maximal darf bis zu einer Höhe von 30 Prozent gekürzt werden. Drastische Sanktionen sind „nicht zumutbar und deshalb verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen“, sie bedeuten einen Eingriff in das Existenzminimum von „außerordentlicher Härte“, heißt es in dem Urteil.
Nicht befasst hat sich das Gericht mit den 10-Prozent-Sanktionen, wie sie beispielsweise wegen versäumter Termine beim Jobcenter verhängt werden. Diese Regelung war nicht Gegenstand des Urteils. Gekippt wurde hingegen die starre Sanktionsfrist. Bei einer Verhaltensänderung, beispielsweise neu bekundeter Mitwirkungsbereitschaft, müssen Betroffene die Möglichkeit erhalten, dass die starre dreimonatige Frist verkürzt wird. Dies erfordert mehr Flexibilität von den Jobcentern, gibt ihnen mehr Spielraum. Möglicherweise führt es eine Zeit lang auch zu einer gewissen Rechtsunsicherheit. Insgesamt (er)fordert die veränderte Sanktionspraxis einen „kleinen Kulturwandel“ in den Jobcentern; sie verändert das Machtgefälle zwischen Sachbearbeiter und Leistungsbezieher aber nicht grundsätzlich.
Der Gesetzgeber muss nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, die Sanktionsversäumnisse reformieren und eine Neuregelung beschließen. Das Bundesverfassungsgericht erließ eine Übergangsregelung mit sofortiger Wirkung; es will seine Übergangsregelung zudem unbefristet weiter gelten lassen, sollte der Gesetzgeber keine eigene Lösung hinbekommen. Das zeugt nicht gerade von einem Vertrauensbeweis des höchsten deutschen Gerichts in die Reformfähigkeit der Politik.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gilt nur für Erwachsene, nicht für die strengeren Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahren. Die Bundesagentur für Arbeit will jedoch in Absprache mit dem Ministerium die Sanktionspraxis mit einer maximalen Kürzung von 30 Prozent analog auf die jungen Menschen unter 25 Jahren übertragen. Rigide Leistungskürzungen haben sich insbesondere bei jungen Menschen kontraproduktiv ausgewirkt. Das Muster, über Bestrafung zu motivieren, hat vielfach nicht funktioniert, auch nicht, wenn die Bestrafung im zweiten oder dritten Schritt noch verschärft wurde. Die schwarze Pädagogik lief leer, wenn als Folge der Sanktionen sich junge Menschen verschuldeten, sich aus ihrem sozialen Umfeld zurückzogen, zu Kleinkriminellen wurden oder sich vollständig vom System abkoppelten und in die Obdachlosigkeit abrutschten. Dies ist im Ergebnis wenig verwunderlich, denn von harten Sanktionen betroffene Menschen konzentrieren sich erfahrungsgemäß auf alles andere, nicht aber auf die Jobsuche.
Im Jahr 2018 wurden 904.000 Sanktionen ausgesprochen, sie betrafen 8,5 Prozent aller erwerbslosen Hartz IV-Empfängerinnen und -empfänger. Laut Detlef Scheele, dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit, sind pro Monat nur drei Prozent des Agenturklientels betroffen, 97 Prozent verhielten sich völlig regelkonform. Viele der Sanktionierten erhalten pro Jahr mehrmals Kürzungen. So erklärt sich, dass es einerseits viele Sanktionen, andererseits aber vergleichsweise wenig Betroffene gibt. Hinter den Mehrfachsanktionen stehen oft Menschen mit Problemen, etwa Suchtkrankheiten oder Depression. Die meisten, in der Regel mit einer 10-prozentigen Kürzung belegten, Sanktionen gab es wegen Meldeversäumnissen, also wenn zum Beispiel jemand nicht zu einem Termin beim Jobcenter erscheint. 77 Prozent bzw. etwa 696.000 Fälle, nicht Personen, waren davon betroffen, 8,6 Prozent der 904.000 haben sich geweigert, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung zu erfüllen und 10,5 Prozent haben sich geweigert, eine angebotene Arbeitsstelle anzunehmen. 7.000 Menschen wurden zu 100 Prozent sanktioniert. Setzt man die 7.000 ins Verhältnis zu den 45 Millionen, die in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen, oder zu den 4,14 Millionen Hartz IV-Empfängerinnen und -empfängern im Jahr 2018, dann ist das eine verschwindend kleine Gruppe, die sich offensichtlich zu großen Teilen gänzlich verweigert. Für diese Gruppe wird ein enormer bürokratischer Aufwand betrieben und faktisch – was für ein paradoxes Menschenbild! – werden diese Menschen aus dem System exkludiert, obgleich die Aufgabe ja in der Integration der Arbeitslosen besteht. Exklusion führt zu erheblichen gesellschaftlichen Folgeproblemen und -kosten. Lohnt sich da der ganze Sanktionsaufwand überhaupt, könnte man fragen, zumal es ja auch eine hohe Quote von erfolgreichen Widersprüchen und Klagen gegen Bescheide gibt und die Forschungslage in Bezug auf eine nachgewiesene Wirkung von Sanktionen ziemlich dünn ist, wie das Bundesverfassungsgericht moniert.
Der Punkt ist allerdings ein anderer, wie Christoph Butterwegge feststellt: „Eine weitgehend repressionsfreie Grundsicherung für Arbeitsuchende entspricht weder den Überzeugungen der gesellschaftlichen Eliten, noch wäre sie mit den Vorstellungen der Regierungsparteien kompatibel.“ Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sprach dann auch von einem ausgewogenen Urteil und hob hervor, dass der Staat das Recht habe, eine Mitwirkung der Leistungsbezieherinnen und -bezieher zu verlangen. Eben dies habe das Gericht bestätigt. Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), hält Sanktionen in manchen Situationen ebenfalls für sinnvoll und sagt: „Es gehört dazu, eine Gegenleistung einzufordern.“ Detlef Scheele hat nach eigener Aussage nie harte Sanktionen, 100-Prozent-Sanktionen und Eingriffe in den Wohnraum befürwortet, hält es aber für richtig, notfalls Leistungen eine Zeit lang um 30 Prozent kürzen zu können. Damit teilt er das Gerechtigkeitsempfinden jener, die mit ihren Steuergeldern Hartz IV finanzieren und die erwarten, dass Leistungsempfängerinnen und -empfänger sich anstrengen, um wieder in Arbeit zu kommen. Für diejenigen, die sich abrackern, ist es unverständlich, dass andere, auch ohne zu arbeiten und ohne Gegenleistung, Geld bekommen. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Studie des IAB aus Nordrhein-Westfalen, in der eine Mehrheit von Arbeitslosengeld II-Bezieherinnen und -beziehern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Jobcentern Verständnis für Sanktionen äußert. Der Aussage, „Wenn das Jobcenter nicht die Möglichkeit hätte, Leistungen zu kürzen, würden alle Leistungsbezieher machen, was sie wollen“, stimmten mehr als 70 Prozent zu. Dies zeigt, wie stark Gerechtigkeitsempfinden und Leistungsprinzip in der Gesellschaft, auch bei den Betroffenen, verankert sind, aber auch, wie stark schwarze Pädagogik verinnerlicht ist.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bietet dem Gesetzgeber die Möglichkeit, nicht nur die Sanktionsversäumnisse neu zu fassen, sondern auch weitere Korrekturen am SGB II vorzunehmen bis hin zu einer Generalüberholung. Als Korrekturen drängen sich, weil ohnehin als Kritikpunkte jahrelang in der öffentlichen Diskussion, u.a. auf, die Zuverdienstgrenzen zu erhöhen, Schonvermögen daran zu messen, je nach dem wie lange jemand eingezahlt hat und vorgelagerte Systeme , wie die Ausbildungsförderung, zu stärken. Weitergehende Vorschläge kommen von der Partei Die Linke; sie schlägt vor, zwischen dem Arbeitslosengeld I und dem Arbeitslosengeld II ein beitragsfinanziertes Arbeitslosengeld Plus in der Höhe von 58 Prozent des vorher erzielten Nettolohns einzufügen. Auf diese Weise sollen Beschäftigte länger vor einem Abstieg in Hartz IV bewahrt werden. Vor allem langjährig Beschäftigte würden davon profitieren.
In der SPD ist Juso-Chef Kevin Kühnert Wortführer derer, die für eine Abschaffung der Sanktionen eintreten und damit die Spirale aus Demütigung und Isolation durchbrechen wollen. In der Rheinischen Post sagte er, dass die Jusos auf dem Parteitag der SPD Anfang Dezember beantragen werden, künftig komplett auf Sanktionen zu verzichten, um stattdessen Förderung, Ermutigung und den Rechtsanspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung in den Mittelpunkt zu stellen. Wie das von Andrea Nahles formulierte und über Sanktionsfreiheit hinausgehende „Hartz IV überwinden“ aussehen soll, ist bisher allerdings von der SPD nicht ausbuchstabiert. Ähnlich wie Kühnert äußert sich der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion Sven Lehmann: „Gegen Rechtsunsicherheit und Bürokratie in den Jobcentern wäre eine komplette Sanktionsfreiheit in der Grundsicherung der beste Weg“ und weiter: „Das wäre eine würdevolle Sozialpolitik“. Grünen-Parteichef Robert Habeck sagt zu der Reform von Hartz IV: „Wir sollten eine Grundsicherung einführen, die auf Anreize statt Strafe setzt. Der Staat kann ein freundliches Gesicht zeigen, ermutigen und unterstützen.“ Dies würde Wertschätzung statt Inkompetenzvermutung bedeuten, es würde bedeuten, die jetzige Misstrauenskultur durch eine Vertrauenskultur zu ersetzen, was zugleich ein anderes Menschenbild impliziert.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil wird diesen Weg nicht mitgehen, sondern sich pragmatisch und eng an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts halten. Zwischenzeitlich stand sogar eine Weisung im Raum, wonach bei kumulativer Verletzung von Pflichten höhere Kürzungen möglich gewesen wären. Der Arbeitsminister stellte jedoch umgehend klar, dass künftig nicht mehr als 30 Prozent innerhalb eines Monats sanktioniert werden darf. Deutlich wird an dieser Stelle: Eine tiefgreifende Reform ist von der Groko kaum zu erwarten; dazu fehlt der politische Wille.
Indem die Sanktionskulisse, wenn auch in abgeschwächter Form, aufrecht erhalten bleibt, bleibt das Drohpotenzial des raschen sozialen Abstiegs, der Entwertung erworbener Berufsqualifikationen und des Abrutschens unter das menschenwürdige Existenzminimum, für den Fall, dass man sich nicht regelkonform verhält, ebenfalls erhalten. Die Angst vor dem Zerbröckeln der sozialen Sicherheit reicht dabei bis weit in die Mittelschicht. Und ob das dem SGB II eingeschriebene obrigkeitsstaatliche, bevormundende Gehabe noch in die Zeit passt und demokratieangemessen ist, darf durchaus in Zweifel gezogen werden. Mündige Staatsbürger wollen auf Augenhöhe behandelt und nicht erniedrigt werden. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung schreibt und er fügt hinzu: „Ein guter Sozialstaat sorgt dafür, dass der Bürger, auch derjenige ohne Arbeit, Bürger sein kann und Bürger sein will.“