Angesichts von Corona – wie umgehen mit Dilemmasituationen?

Noch haben wir die Situation in Deutschland nicht, dass bei einer hohen Zahl von Covid-19-Patienten objektiv unzureichende Ressourcen zur Verfügung stehen und Ärzte die Entscheidung über die Dringlichkeit einer Behandlung zu treffen haben. Der in diesem Zusammenhang benutzte Begriff der Triage, was Sichtung oder Einteilung bedeutet, kommt aus der Militärmedizin. Er bezeichnet ein Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistung, mithin die ethisch schwierige Aufgabe darüber zu entscheiden, wie die (zu) knappen personellen und materiellen Ressourcen aufzuteilen sind oder zugespitzter formuliert, letztlich darüber zu entscheiden, wer überlebt und wer nicht. Ziel ist, dass möglichst viele Menschen, den Krieg, die Epidemie oder die Katastrophe mit möglichst wenig Schaden überstehen.

Eine Triage gilt es, wenn irgend möglich, zu vermeiden, in der aktuellen Situation insbesondere durch die Steigerung der Zahl der Intensivbetten und Beatmungsgeräte sowie , falls der Krisenfall eintreten sollte, durch die (über)regionale Verteilung von Patienten auf Kliniken, die noch über ausreichend Kapazitäten verfügen. Auch eine deutlich bessere Verzahnung der Kliniken mit den niedergelassenen Ärzten und den Palliativdiensten ist im Vorfeld dringend vonnöten. Nicht vergessen werden darf, dass Krankenhäuser seit den 80ern im Wettbewerb stehen, auf Gewinnmaximierung ausgelegt sind, sich, um Geld zu verdienen, an Fallzahlen und Liegezeiten orientieren und die Bettenkapazität nach der Just-in-time-Logik berechnen. Die Kommerzialisierung hat das Gesundheitswesen zum Gegenteil einer gemeinwohlorientierten und bedarfsgerechten Daseinsvorsorge gemacht.

Inzwischen haben sieben medizinische Fachgesellschaften, federführend die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin und die Akademie für Ethik in der Medizin – quasi als Vorsichtsmaßnahme und zur Vermeidung von Situationen wie in Bergamo oder New York -, Leitlinien für den Fall erarbeitet, dass die Behandlungsplätze nicht reichen. Wenn es nötig ist, intensivmedizinisch zu behandeln, wird danach abgewogen, ob es realistische klinische Erfolgsaussichten einer Intensivtherapie zum aktuellen Zeitpunkt gibt. Die Intensivmedizinerin Kathrin Knochel hat an den Empfehlungen mitgearbeitet und hält dazu im Interview mit der Süddeutschen Zeitung fest: „Der zentrale Punkt ist, dass die Verteilung der Ressourcen so fair, ethisch gut begründet und so transparent wie möglich erfolgen soll. Dazu gehört das Mehraugenprinzip. Es soll also nicht ein Arzt allein die Entscheidung treffen, sondern es sollen sich im Optimalfall möglichst mehrere Ärzte verschiedener Fachabteilungen plus jemand aus den Pflegeteams beraten. Die Entscheidung soll sich am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. Es soll die Gesamtsituation eines Patienten eingeschätzt werden. Dabei werden der aktuelle und der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten ebenso wie die Schwere der unmittelbaren Erkrankung gemeinsam in den Blick genommen. Diese Punkte werden für jeden Patienten , der zu diesem Zeitpunkt intensivmedizinisch behandelt werden muss, (also nicht nur die Covid-19-Patienten), sorgfältig erfasst und vorrangig wäre dann der Patient mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, dass die Behandlung hilfreich ist.“ Lebensalter und Herkunft spielen für die medizinische Behandlung folglich keine Rolle, wohl aber gelten schwere Erkrankungen und begleitendes Organversagen, weit fortgeschrittene neurologische und onkologische Erkrankungen oder eine schwere Immunschwäche als Indikatoren für geringe Erfolgsaussichten. Die Erfolgsaussichten müssen in angemessenen Abständen und in jedem Einzelfall immer wieder neu beurteilt werden.

Die gestufte Entscheidung nach Dringlichkeit und Erfolgsaussichten gibt es bereits als Triage in der Katastrophenmedizin und im Bereich der Vergabe von Organen. Gleichwohl ist die Triage kein gesetzlich kodifiziertes Verfahren. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, meldet denn auch rechtliche Bedenken an, nicht gegen das Kriterium der Erfolgsaussicht, wohl aber gegen das Einbeziehen der Prognosen zum Gesundheitszustand. Er kritisiert die Empfehlungen für Ärzte zur Auswahl von Intensivpatienten als „sehr gefährlich“ und macht deutlich, dass aus seiner Sicht die Empfehlungen im Falle eines Strafverfahrens keine Rechtfertigung für den Arzt darstellen. Strafrechtlich, das wird hier erkennbar, ist die Triage bei der Pandemie eine komplexe und schwierige Materie.

Die Corona-Krise evoziert nicht nur eine Dilemmasituation, wie bei der Triage, sondern fordert auch eine Abwägung zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Ängsten und Sicherheiten. Denn es liegt auf der Hand, dass der Shutdown die wirtschaftlich Existenz von Unternehmen bedroht, die Steuereinnahmen des Staates mindert und viele Familien in wirtschaftliches und soziales Elend stürzt, so dass manch ein Politiker sich mit der Frage plagt, was, d.h. wie viel Geld, ist uns der Schutz der Corona-Gefährdeten wert, bevor oder während die Wirtschaft wieder in Gang gebracht wird? Immanuel Kant war da ganz klar; er verstand die Würde als einen absoluten, nicht verrechenbaren Wert. Überall dort, wo man handelt, wo man Ziele verfolgt und Mittel einsetzt, schrieb er „hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent gestattet, das hat eine Würde.“ Als vernunftbegabte Wesen haben Menschen eine unverrechenbare Würde, so Kant. Ethik und Ökonomie sind daher nicht miteinander verrechenbar. Eine Ethik der Nutzenabwägung und -maximierung reicht dann nicht mehr aus, wenn man es mit der Fürsorge für die Kranken, Schwachen und Hilflosen zu tun hat. Politik muss ihre Strategie an dem Grundsatz ausrichten, dass die Anstrengung des Staates jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor ökonomischen Kosten.

Ethische und moralisch-rechtliche Fundamente werden allerdings beiseite geschoben, wenn zum einen Politiker wie Bolsonaro oder Trump das Corona-Virus als Grippe abtun und der Epidemie somit freien Lauf lassen, nicht zuletzt um die Wirtschaft nicht abstürzen zu lassen. Zumindest Trump scheint sich inzwischen, wenn auch spät, besonnen zu haben. Zum anderen, wenn die britische und die niederländische Regierung ursprünglich das Ziel verfolgt haben, schnell eine Herdenimmunität zu erreichen und sich damit eine utilitaristische Kalkulation zu eigen gemacht haben. Denn darunter verbirgt sich das Dilemma, entweder die Pandemie einzudämmen, was zur Zerstörung der Wirtschaft führen kann oder einen höheren menschlichen Preis in Kauf zu nehmen , um die Wirtschaft zu retten. In der Tat sind die unterschiedlichen Perspektiven und Interessenkonflikte nicht zu negieren. Wenn der Staat allerdings der Pandemie freien Lauf ließe, nähme er das vermeidbare Risiko des voraussehbaren Zusammenbruchs des Gesundheitswesens und damit einen relativ höheren Anteil an Toten billigend in Kauf. Das zivilisatorische Tabu, Menschenleben nicht mit Geld zu verrechnen, würde dann nicht mehr standhalten. Daher ist der Rückgriff auf eine Ethik der unverrechenbaren Menschenwürde unabdingbar.

Gleichwohl wird nun überlegt, wie man aus dem Shutdown wieder herauskommt. Der Politiker Boris Palmer und der Ärztepräsident Klaus Reinhardt haben sich dabei mit in die gleiche Richtung zielenden Äußerungen hervorgetan. Sie wollen über 65-jährige und Risikogruppen isolieren. Dann könne zum einen durch eine kontrollierte Ausbreitung in der jüngeren Bevölkerung ein Durchseuchungsgrad erreicht werden, der die Epidemie zum Ende bringt, zum anderen können Jüngere nach und nach wieder in den Produktionsprozess integriert werden. Es klingt einfach. Risikogruppen werden per Auflagen isoliert und der Rest geht wieder zum Alltag über. Es ist schon ein amüsanter  Gedanke, sich Schäuble, Kretschmann, Gauland und viele andere in ständiger Quarantäne vorzustellen, so einfach ist es indes nicht. Denn ältere Menschen und chronisch Kranke sind Staatsbürger mit unveräußerlichen Rechten wie alle anderen. Es geht dabei um etwa 18 Millionen Menschen, die über 65 sind. Hinzu kommen Millionen weitere: Diabetiker, Dialysepatienten, Menschen mit einem schwachen oder unterdrückten Immunsystem usw. Risikopatienten gibt es in allen Altersgruppen. Schlicht nicht umsetzbar wäre  eine Teilisolierung mutmaßlicher Risikogruppen, wenn sie mit anderen zusammenleben. Will man die auch isolieren und denen etwa den Schulbesuch oder die Arbeit außerhalb des Homeoffice untersagen? Und wo bleibt in diesem Zusammenhang der vielzitierte Begriff der Inklusion? Derartige Szenarien führen zu sozialer Ausgrenzung und einer Spaltung der Gesellschaft. Der Berliner Virologe Christian Drosten beschied denn auch knapp: „Die Idee, dass man nur Risikogruppen isoliert, funktioniert nicht.“ Man kann nicht Vorerkrankte und Ältere gegen Jüngere ausspielen. Der Weg aus dem Shutdown muss ein anderer, mit Sicherheit ein komplexerer, sein. Für Dilemmasituationen gibt es keine einfachen oder idealen Antworten. Je nachdem wie die Entscheidung zum Ausstieg aus dem Shutdown und dem weiteren Umgang mit dem Virus fällt, entstehen dadurch allerdings nachhaltige gesellschaftliche Weggabelungen.

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