Corona – Zeit. Zeit für einen Epochenwandel? Verändert Corona unser Denken und Handeln nachhaltig?

Der Soziologe Ulrich Bröckling hat auf „Soziopolis“, dem Internetportal des Hamburger Instituts für Sozialforschung, einen interessanten und empfehlenswerten Artikel über Schlüsselbegriffe der Gegenwart verfasst. Er schreibt darin:

Wenn angesichts von Pandemien, Klimawandel und anderen Bedrohungen die Zukunftshoffnungen darauf zusammenschnurren, dass es im besten Fall nicht ganz so schlimm kommen wird, dann verliert der Optimierungsimperativ seine Sogkraft. Das ökonomische Prinzip des effizienten Ressourceneinsatzes verschwindet keineswegs, seine Dringlichkeit nimmt vielmehr zu, freilich wechselt es das Vorzeichen: Statt um Nutzenmaximierung geht es nun um Schadensminimierung. Nicht mehr das Erreichen des Bestmöglichen, sondern die Verhinderung des Schlimmstmöglichen beziehungsweise, wenn auch das nicht realistisch erscheint, Resilienz gegenüber dem Unvermeidbaren stehen fortan auf der Agenda. Prävention und Präemption verdrängen Perfektionierung, Nachhaltigkeit wird wichtiger als Steigerung und an die Stelle unternehmerischer Antizipation von Kundenerwartungen treten Strategien des Coping mit wechselnden Gefährdungslagen. Formal gesehen verbleibt diese Umkehrung im Rahmen ökonomischer Rationalität,….

Verändert also Corona unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Wirtschaftsweise? Ein Weiter-so wird von vielen Menschen kritisch gesehen und das immer Schneller-Höher-Weiter in Frage gestellt. Corona hat uns vor Augen geführt, dass unser Wirtschaftssystem von einer Ressource abhängt, die wir alle für selbstverständlich hielten: der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Die Gesundheit wurde stets stillschweigend vorausgesetzt. Durch Corona ist die Beziehung zwischen unserer Gesundheit und dem Markt nunmehr schmerzhaft deutlich geworden: Ohne Menschen, ohne Gesundheit keine Produktion und auch kein Konsum, mit der Folge, dass der Lockdown viele Staaten in eine tiefe Rezession gestürzt hat.

Staaten und Gesellschaften waren (und sind) damit beschäftigt, die Wirtschaftstätigkeit zu steigern, die Effizienz zu erhöhen, Arbeitskosten zu senken, die Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer zu ermöglichen, Banken und Finanzzentren zu deregulieren sowie die Bedürfnisse von Konzernen zu befriedigen. Unsere Gesellschaften waren (und sind) darauf ausgerichtet, nach Gewinn zu streben, Profitmaximierung zu betreiben und Land und Arbeit auszubeuten, was in der Konsequenz u.a. zur Zerstörung unserer Umwelt und unserer Lebensgrundlagen sowie zu einer Aushöhlung des öffentlichen Sektors geführt hat.

Die Corona Pandemie führt uns vor Augen, dass unser Wohlstand brüchig und unser Leben endlich ist und Corona demonstriert uns unsere Verwundbarkeit. Ist das Bewusstsein unserer Verwundbarkeit der Schlüssel für eine Veränderung? Als Felder für notwendige und nachhaltige Veränderungen werden aufgerufen: Gesundheit, Mobilität, Klima. Aber liegt ein Epochenwandel überhaupt innerhalb unserer Vorstellungskraft oder haben wir den Glauben an ein Happy End („es ist ja immer irgendwie gut gegangen“) über die Jahrzehnte so verinnerlicht, dass wir zu einem energischen Umsteuern gar nicht mehr in der Lage sind? Hoffen wir, dass die Corona Pandemie vorübergehen wird wie Tschernobyl oder die Finanzkrise?  Oder ist uns bewusst, dass wir ausgetretene Pfade verlassen müssen? Die skizzierten Trends können zu regressiven oder zu progressiven Transformationen führen oder sich auch in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern unterschiedlich niederschlagen.

Corona offenbart Wunden, die bereits seit langem schwären. Die Pandemie wirkt nur als Scheinwerfer, der die Missstände, z.B. in den Schlachthöfen, in ein grelles Licht rückt, bekannt waren die Zustände der Politik auch schon vorher. Die Fleischindustrie, festgemacht am Marktführer Tönnies, basiert auf einem durchgetakteten, auf Effizienz getrimmten und auf maximale Auslastung ausgelegten System. Geschlachtet werden die Schweine im Akkord, 1.500 pro Stunde. Beteiligt daran sind Menschen aus 87 Nationen, organisiert über Leiharbeit, Werkverträge und unterhalb des Mindestlohns über ein Sub-Sub-Unternehmertum; ein ausschließlich auf Profit  ausgerichtetes ausbeuterisches System organisierter Verantwortungslosigkeit.

Die Arbeiter leben zumeist in engen Massenunterkünften wie in einer Parallelgesellschaft; manche schlafen im Drei-Schicht-Betrieb mit bis zu 10 Mann in einer Drei-Zimmer-Wohnung und werden in Sammelbussen zu wechselnden Betrieben gefahren, was die Ausbreitung des Virus zweifellos begünstigt. In den Schlachthöfen gibt es ohnehin schon genügend Risikofaktoren. So erleichtert Kälte die Übertragung der Viren. Man hat bei 4 Grad noch bis zu 7 Tage lang Virusreste nachgewiesen. Die körperlich anstrengende Plackerei zwingt die Arbeiter dazu, heftiger zu atmen, zudem stehen die Schlachthofmitarbeiter bei manchen Tätigkeiten eng beieinander, was ebenfalls die Ansteckung begünstigt. Kein Wunder also, wenn sich Schlachthöfe zu Hotspots der Pandemie entwickelt haben.

Nicht vergessen werden darf, dass die Fleischindustrie auf tierquälerischer Intensivhaltung beruht und das Preisdumping auf Kosten von Landwirten, Tieren und Umwelt geht; zu Lasten der Umwelt, etwa wenn Antibiotika mit der ausgebrachten Gülle auf den Äckern landen oder durch (Über)Düngung Nitrat das Grundwasser verseucht. Aufgrund dieser Produktionsbedingungen ist Deutschland zu einem Billiglohnland für Fleischwaren geworden, indem die Discounter die Marktanteile mit Billigware erkämpfen und die Verbraucher billiges Fleisch auf dem Herd oder Grill als selbstverständlich ansehen.

Das ganze System gerät nun durch Corona ins Wanken. Denn Fleischer aus Grossschlachtereien und Sammelunterkünften werden, sobald sie sich infiziert haben, als Überträger zum Risiko für die gesamte Gesellschaft. Sie tragen das Virus in ihr Lebensumfeld, in die Städte und Kreise, nehmen es aber auch mit in ihre Heimatländer. Eingedämmt werden kann das Virus nur durch den Eingriff des Staates, hier des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Missstände bei den Produktionsbedingungen und die vorhandenen ausbeuterischen Strukturen können nur durch Gesetze beseitigt werden, so wie Karl-Josef Laumann, der für Arbeit, Gesundheit und Soziales zuständige Minister, es deutlich formuliert: „Mit der Fleischindustrie kann es keine freiwilligen Vereinbarungen geben, sondern nur klare gesetzliche Vorgaben.“ Allerdings müssen die Veränderungen über die Abschaffung von Werkverträgen und Leiharbeit hinausgehen und das ganze System hin zu einer umwelt- und tierfreundlichen Landwirtschaft umsteuern. Nicht zuletzt kann der Verbraucher wesentlich Einfluss nehmen, indem er weniger Fleisch verzehrt und Wert auf eine gesunde Ernährung und eine artgerechte Tierhaltung legt.

Die Corona Pandemie könnte nicht nur in der Fleischindustrie einen Wendepunkt markieren, sondern auch beim Klima. Bisher setzt Politik – hier wie dort – auf freiwillige Selbstverpflichtung und moralische Appelle. Ein erfolgreicher Post-Corona-Weg Richtung Nachhaltigkeit ist aber ohne den Gesetzgeber nicht möglich; ebenso wie entschiedenes staatliches Handeln und klare Rahmensetzungen braucht es die Einbeziehung der Unternehmen und der Verbraucher bzw. Bürger.

Für die Corona-  wie für die Klimakrise gilt: Je stärker wir die Infektionsmöglichkeiten begrenzen bzw. je früher wir die Emissionen senken und damit die Kurve abflachen, desto länger haben wir Zeit, um das Schlimmste zu verhindern. Sobald ein bestimmter Punkt überschritten ist, droht im Pandemiefall das Gesundheitssystem zu kollabieren und beim Klima lösen Kippelemente mit großer Wahrscheinlichkeit unaufhaltsame und irreparable Umweltschäden aus, die unser Überleben gefährden. Beim Schmelzen des grönländischen und arktischen Eisschildes, beim Absterben der tropischen Korallenriffe oder der Methanfreisetzung durch tauende Permafrostgebiete sind wir an unsere planetarischen Grenzen gelangt, schon nahe am Notfall und marschieren mit ständig reduzierter Interventionszeit schnurstracks auf die Kipppunkte zu. Derzeit haben wir eine globale Erwärmung von 1,1 Grad. Korallenriffe sterben bei 1,5 Grad ab, das Grönlandeis schmilzt bei 2 Grad. Wir müssen begreifen, dass die Erwärmung anthropogen ist, also durch den Menschen verursacht, und dass die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, in die ferne Zukunft ausstrahlen. Angenommen wir würden – egal wann – alle fossilen Energien verbrennen, dann würde allein dadurch der Meeresspiegel um 60 Meter steigen. Ein wirtschaftliches, ökologisches und soziales Desaster!

Derzeit spüren viele von uns den Klimawandel eher mittelbar, obgleich z.B. im jährlichen Skiurlaub das kontinuierliche Schmelzen der Gletscher in den Alpen unübersehbar ist. Arktis und Permafrostböden sind jedoch weit weg. Wahrscheinlich würde, erst wenn die dramatischen Auswirkungen direkt vor unserer Haustür wahrnehmbar wären, hektisches Handeln einsetzen. Viel, viel zu spät, um die Erde dann noch zu retten. Corona Pandemie und Klimawandel sind ein Risiko für die Gesellschaft, für alle Gesellschaften. Insofern geht es auch nur mit koordinierten internationalen Reaktionen, diese Gefahren zu bewältigen. Es braucht die millionenfache Erkenntnis und die Bereitschaft, das Leben über den Profit zu stellen, damit das Befürchtete nicht eintritt. Es braucht die Bündelung der Kräfte im Zeichen des Lebensschutzes und dazu ist ein (vor)sorgendes und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientiertes gesellschaftliches und politisches Handeln notwendig. Es geht um nichts Geringeres als die Neuausrichtung menschlicher Lebenswelten am Grundsatz einer bewahrenden Sorge sowohl füreinander als auch für die Umwelt.

Der Zustand der Natur ist systemrelevant, um zu überleben und ein (gutes) Leben für alle zu ermöglichen. Ausbeutung und Betrachtung der Natur als Müllhalde und Rohstofflager sind hingegen system- und umweltgefährdend. Als systemrelevant wurden in der Pandemie auch das Gesundheitssystem und die Pflege erkannt.  Gesundheit und Pflege als Kernbereiche der Daseinsvorsorge gehören zu den Gütern, die – in großen Teilen – außerhalb des Marktes platziert werden müssen. Es gilt unsere neoliberalen Wirtschaftsprinzipien überall da einzuschränken, wo sie nicht dem Lebenserhalt und dem Lebensschutz dienen. Anvisiert wird eine klimaverträgliche und ressourcenschonende Wirtschaftsweise, eine Wirtschaft, die wächst, da, wo sie wachsen kann und da, wo es dem Lebensschutz und der Nachhaltigkeit dient und die auf Wachstum verzichtet, wo es die Natur überfordert. Gelingen kann dies durch politische Interventionen  in ökonomische und soziale Rahmenbedingungen, durch eine verstärkte Rolle des Staates sowie durch Veränderungen, die auf die Bedürfnisse der Menschen abstellen, die klimafreundliches Verhalten belohnen und bei denen Menschen Freude haben, ihren Lebensstil zu ändern. Denn auch Veränderungen leben von Partizipation.

Corona ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern zieht eine wirtschaftliche und soziale Krise nach sich, wirft Wertkonflikte und Verteilungsfragen auf und erfordert aktuell ein mit Blick auf Nachhaltigkeit und langfristige Ziele ausgerichtetes Handeln. Mit ihr tut sich ein Fenster an Möglichkeiten auf, möglicherweise auch ein Fenster der Notwendigkeiten, womöglich aber auch ein Fenster inkompatibler Alternativen. Steht sie am Beginn eines Epochenwandels?

Wenn, wie Ernst Bloch 1918 konstatiert hat, die tastende und experimentierende Bestimmung des Zukünftigen den Prozess der Verwirklichung der konkreten Utopie kennzeichnet, ist mit der Post-Corona-Debatte  – erstmals seit 1968 – das Ringen um die konkrete Utopie diskursiv zurückgekehrt. Allerdings, um an Ulrich Bröckling anzuknüpfen, unter veränderten Vorzeichen.

 

 

 

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