Sommersemester 2020 – digitalisierte Unis? Eine Zwischenbilanz

Die Corona-Krise hat die meisten traditionellen Universitäten ziemlich unvorbereitet getroffen. Um ihren Studierenden überhaupt das Weiterlernen zu ermöglichen, mussten sie im Sommersemester 2020 in Windeseile komplett auf Online-Lehren und -Lernen umstellen. Durch den Ausbau digitaler Infrastrukturen sowie das Improvisieren und Experimentieren mit für die universitäre Digitallehre geeigneten didaktischen Konzepten haben die Universitäten einen kräftigen positiven Schub in puncto Digitalisierung erhalten. Denn Methoden des Präsenzunterrichts lassen sich nun mal nicht eins zu eins in die digitale Welt übersetzen. Es hapert stellenweise allerdings noch an fehlenden Glasfasernetzen und instabilen W-Lan-Verbindungen; ein Mangel, der jedoch nicht den Universitäten anzulasten ist.

Bei den auf Wirtschaft spezialisierten Hochschulen hat Corona den Trend zum Online-Studium erheblich verstärkt. Ohnehin gibt es weltweit bereits viele Angebote, den Master of Business Administration (MBA) in einem Online-Lehrgang zu erwerben.  Nun zieht auch die – nach dem Ranking der Financial Times – Nummer eins in Deutschland, die Otto Beisheim School of Management, mit einem Angebot an Studierende aus aller Welt nach. Wenngleich zwischen Hochschule und Studienteilnehmern Ozeane liegen können, verspricht die Otto Beisheim School of Management eine individuelle Betreuung. Auslöser für diesen digitalen Entwicklungssprung war die Corona-Krise.

Das Gebot des Social Distancing hat insgesamt das virtuelle Lernen vorangetrieben. Klar im Vorteil gegenüber den traditionellen Hochschulen waren die Anbieter von Fernunterricht sowie Universitäten, die schon vor der Pandemie Erfahrungen mit interaktiven Online-Lehrveranstaltungen gesammelt hatten. Dazu zählen z.B. die Private Hochschule Göttingen oder die Technische Hochschule Lübeck, die 2015 den Preis des Stifterverbands und der Heinz-Nixdorf-Stiftung für die Digitalisierung von Lernstrukturen erhalten hat. Ebenfalls im Vorteil die IUBH Internationale Hochschule, die von ihren Fernstudienlehrgängen profitieren konnte. Moderne Lehrmethoden, virtuelle Hörsäle, Tutorien und Gruppenarbeiten in virtuellen Breakout-Räumen, Terminpläne, jederzeit im Online Campus abrufbare Literatur und abrufbares Lehr- und Lernmaterial, Online- Klausuren, Online-Notenvergabe und eine Online-Verwaltung ermöglichten den Studierenden an der IUBH ein ortsunabhängiges Lernen. Alles, was für eine digitale Lehre gebraucht wird, war schon da. Die Hochschule kommt sozusagen zum Studierenden.

Die räumliche Trennung zwischen Universität und Studierenden hat aber auch Kehrseiten. Denn Begegnungen, Austausch und Gespräche sind nicht verlustfrei in virtuelle Formate zu übertragen; es fehlt an Unmittelbarkeit, es fehlen die aufmunternden Gesten ebenso wie die wissend-genervten Blicke. Die Diskursdynamik ist deutlich gebremster als in Präsenzveranstaltungen, wo doch lebhafte und lehrreiche Diskussionen den Charme vieler Seminare ausmachen. Der direkte und persönliche Austausch mit Professoren und zwischen den Studierenden entfällt weitestgehend. Das soziale Miteinander und die soziale Eingebundenheit sind jedoch nicht zu ersetzen. Die Präsenzlehre hat nach diesem Semester  längst noch nicht abgedankt.

In einer Umfrage der Organisation der Allgemeinen Studierendenausschüsse (Asta) der niedersächsischen Hochschulen geben 80 Prozent der befragten Studierenden an, dass sie die coronabedingten Online-Vorlesungen und -Seminare als psychisch belastend empfinden. Diese Belastung äußere sich unter anderem in Konzentrationsbeschwerden und Schlafstörungen. 70 Prozent stellen darüber hinaus eine höhere Arbeitsbelastung durch die Online-Lehre fest. Zudem verlange Online-Lehre ein hohes Maß an Selbstdisziplin.

Verständlich, dass bei bis zu sechs Stunden Video-Teaching die Konzentration leidet. Es ist andererseits für die Studierenden durchaus verlockend, sich dann und wann oder auch gänzlich zu verstecken. Unsichtbarkeit ist zweifellos die bessere Wahl, etwa wenn man fünf Minuten vor der Vorlesung aus dem Bett gestiegen ist und nicht so gern im Blümchenpyjama gesehen werden möchte. Eine abgeschaltete Kamera eröffnet ohnehin neue Möglichkeiten. Man muss sich nicht anstrengen, konzentriert auszusehen, während der Dozent einen langen Monolog hält. Wer nicht im Bild zu sehen ist, kann mit dem Handy rumspielen, zwischendurch die Wäsche aufhängen oder sogar mal kurz einkaufen gehen. Hauptsache, die Prüfungsleistung wird erfolgreich abgeliefert.

Obwohl die Studierenden mit sozialen Medien sozialisiert wurden, finden sie es offensichtlich unangenehm, sich kenntlich zu machen. Wer nach den Gründen fragt, erhält als häufige Antworten Skepsis hinsichtlich der Datensicherheit und eine zu geringe Bandbreite zu Hause, aber vor allem wollen die Studierenden keinen Einblick in ihre Privatsphäre gewähren. Sie bleiben lieber unsichtbar. Arbeit und Privatleben sollen sich nicht miteinander mischen, ein der Generation Z zugeschriebenes Merkmal. Stumm, unsichtbar und mit nur wenigen physischen Kontakten navigiert diese Generation durch das Semester, so dass man schon von der „Generation unsichtbar“ spricht.  Christian Kirchmeier weist in diesem Zusammenhang in der Süddeutschen Zeitung auf ein Paradox hin: „Man ist sich schnell darüber einig, sozial Schwachen das Recht auf Sichtbarkeit und Hörbarkeit zuzusprechen, ohne selbst von diesem Recht Gebrauch zu machen.“ Die Erkenntnis, sozial Schwachen Gehör zu verschaffen, wird nicht auf den eigenen akademischen Diskurs bezogen, dies erstaunlicherweise auch nicht in den Geisteswissenschaften und in der Sozialen Arbeit, die doch ihr Klientel ermutigen und befähigen sollen, ihre Interessen selbst zu artikulieren und wahrzunehmen.

Getoppt wird das Ganze, wenn auch der Dozent seinen Bildschirm schwarz lässt. Dann hat die Lehre mehr Ähnlichkeit mit einer Telefonkonferenz und ist weit davon entfernt unterschiedliche Lerntypen zu adressieren. Aber auch ohne diese Zuspitzung sind schwarze Bildschirme bei den Studierenden für Dozenten eine psychologische und motivationale Herausforderung. Nicht verwunderlich, dass die Lust auf das Digitale nach diesem Semester bei Lehrenden wie bei Lernenden nachgelassen hat.

Corona hat den studentischen Alltag zwar kräftig umgekrempelt, aber es wird künftig nicht zu einem totalen Online-Lernen kommen und auch nicht dazu, dass Studierende keinen Wohnsitz mehr am Ort ihrer Hochschule suchen. Das ökonomisch geprägte Szenario: weniger benötigte Hörsäle, kaum Fahrtkosten, weniger benötigter Wohnraum, wird nicht Realität werden, denn Universität erschöpft sich nicht in reiner Stoffvermittlung und allein mithilfe von Technik Menschen bilden zu wollen, ist eine Illusion. Die Universität ist als Lebens- und Lernraum keineswegs obsolet; sie bedeutet intellektuellen Austausch, Kommunikation und kritische Reflexion in der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Dazu gehört die Präsenz vor Ort.

Gleichwohl gilt es die Vorteile der Onlinelehre, etwa eine Vorlesung zu jeder Tages- und Nachtzeit anschauen zu können, zu nutzen ebenso wie die vielfältigen und längst noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten des Digitalunterrichts. Und natürlich müssen die digitalen Infrastrukturen und Lernplattformen weiter ausgebaut werden. Das nächste Semester startet als Hybrid-Semester mit einer Mischung aus Präsenz- und Onlinelehre. Für die Zeit danach braucht es verlässliche Rahmenbedingungen, Perspektiven, die mit der Veränderungsgeschwindigkeit Schritt halten und eine kluge Mixtur mit dem Besten aus beiden Welten, gern auch mit Anleihen beim Fernunterricht. Digitalisierung macht die Lehre flexibler; ihr wird in Zukunft eine prominentere  Rolle an den Universitäten zukommen.

 

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