Führen in, durch und nach der Corona-Krise

Wir leben in einer Welt dynamischer Veränderungen und nicht kalkulierbarer gesellschaftlicher, technologischer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen. Die Digitalisierung greift zudem in unseren beruflichen Bereich hinein, beeinflusst unsere soziale und private Kommunikation sowie unsere gesamte Lebensgestaltung. Strukturen und Werte, Geschäftsmodelle wie auch Umgangsformen ändern sich dadurch in rasanter Geschwindigkeit. Diesen Kontext, in dem wir leben, beschreibt das griffige Akronym VUKA, das für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität steht. Der Begriff kommt aus der Militärstrategie  und beschrieb nach dem Ende des Kalten Krieges mit seinen zwei Blöcken, die neue, undurchsichtige Sicherheitslage, wurde aber bald auch für die verwirrende neue Wirtschaftswelt verwendet.

Die Corona-Krise hat nun die ohnehin bestehende Unübersichtlichkeit noch einmal dramatisch verschärft und Schwächen in vielen Bereichen der Gesellschaft bloß gelegt, etwa in der Politik, die nicht in der Lage ist, stringente Rahmenbedingungen vorzugeben, geschweige denn klare, tragfähige (Vor)Aussagen zu treffen. Aber auch Versäumnisse der Vergangenheit, wie der stiefmütterliche Umgang mit der Digitalisierung schlagen jetzt negativ durch; die Ausstattung vieler Schulen mit Hard- und Software erweist sich als ebenso unzureichend wie die damit korrespondierende Qualifikation der Lehrkräfte, die Gesundheitsämter sind hoffnungslos überlastet, Pflegekräfte fehlen, das Gesundheitssystem operiert an seinen Grenzen. Unternehmen drohen Insolvenzen, vor allem im Einzelhandel, in der Gastronomie und im gesamten Kulturbereich; ganze Branchen verlieren den Anschluss und tragen damit zur zunehmenden Verödung der Innenstädte bei. Entlassungen und Kurzarbeit führen zu finanziellen Einschränkungen in Familien und zu stockendem Konsum. Die Corona-Krise verschärft so die soziale Ungleichheit noch einmal. Das steigende Tempo der Veränderungen, die angstauslösende Unsicherheit, das Leben im Modus der Disruption, sie führen dazu, dass ein Teil der Menschen nicht mehr mithalten kann, dass Menschen sich nicht mehr wahrgenommen fühlen und in der Folge nicht selten Verschwörungstheorien anhängen und ausleben.

Für andere, wie den Zukunftsforscher Matthias Horx, wirkt die Corona-Krise als  Beschleuniger in der Arbeitswelt; er sieht in ihr einen Fortschrittserzwinger. Doch wie ist es möglich, inmitten der Krise den Glauben an Erneuerung zu bewahren, ohne bloß altbekannte Optionen der Gegenwart in die Zukunft zu verlängern?

Frank E. P. Dievernich, Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences, hat darauf eine Antwort. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau schreibt er: „Diese Corona-Krisenzeit ist die Zeit der Führung, nicht nur in der Politik, sondern in unseren vielfältigen Organisationen wie Unternehmen, Verwaltungen und Kulturbetrieben.“ Und weiter: „Dabei entpuppt sich gute Führung als Haltung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Alternativen abzuwägen, Entscheidungen unter Unsicherheiten zu treffen, diese erklärend zu kommunizieren und zu revidieren, sofern sich neue Erkenntnisse ergeben… Es braucht also Führungspersönlichkeiten, die unterscheiden und Strukturbrüche aktiv gestalten. Tun sie dies nicht, entwickelt sich die Krise zur Katastrophe, die Niedergang bedeutet.“ Im Prinzip steht hinter dieser Position die alte hierarchische Ordnung mit einer entsprechend heldenhaften Führung, die sich ein aufgeklärtes Gewand übergeworfen hat. Sicherlich ein möglicher Weg durch die Krise wie durch Krisen überhaupt. Allerdings kommen in diesem Verständnis von Führung Werte, Visionen oder die Mitarbeiter*innen als wichtige Ressource nicht oder bestenfalls am Rande vor, Selbstmanagement, dezentrale Entscheidungsfindung und Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeiten der Mitarbeiter*innen überhaupt nicht.

Standardrezepte greifen in Corona-Zeiten nur bedingt, meistens wohl aber eher nicht. Wir brauchen nicht so sehr straff geführte, sondern eher zu eigenständigem Handeln befähigte Mitarbeiter*innen. Dies zeigt sich am Beispiel der Arbeit im Home-Office. Mehr als jeder zweite Beschäftigte hat seinen Arbeitsplatz während der Pandemie nach Hause verlegt. Führungskräfte müssen umdenken, wenn sie ihre Mitarbeiter*innen nur über Zoom oder Telefon im Home-Office erreichen können. Kleinteilige Anweisungen oder selbstherrliches Gehabe sind da wenig hilfreich, gefragt ist Führen mit Inhalten und Zielen. Es kommt darauf an, die Mitarbeiter*innen zu befähigen, die Zielvorgaben auch zu erreichen und wenn sie Probleme haben, Lösungen zu finden. Manch eine Führungskraft kann allerdings mit dem damit verbundenen Kontrollverlust nicht umgehen so wie auch nicht alle, die im Home-Office arbeiten, besonders diejenigen, denen die Struktur des Arbeitens vor Ort fehlt, mit den neuen Freiheitsgraden umgehen können. Es ist daher wichtig, die Kommunikation zwischen den Beteiligten aufrecht zu erhalten und die individuell sehr unterschiedlichen Bedürfnisse nach Struktur und Sicherheit zu berücksichtigen. Damit die emotionale Ebene im Home-Office nicht gänzlich verloren geht, ist es für Führungskräfte geradezu unverzichtbar, Zweiergespräche und Gruppencalls ritualisiert einzuplanen und sich Feedback geben zu lassen.

Entscheidungsfreude, Integrität, Vorbildfunktion, Empathie und Resilienz sind schon vor Corona wichtig gewesen und sie sind es auch heute noch. Neben Selbststeuerung, Selbstdisziplin und Kommunikationskompetenz sowie dem Umgang mit Unsicherheit in Bezug auf neue Prozesse ist insbesondere Lernkompetenz eine (überlebens)notwendige Antwort auf den Wandel und dies gilt gleichermaßen für Führungskräfte, Mitarbeiter*innen, Unternehmen und Systeme.

Mit veränderten Rahmenbedingungen gehen  fast zwangsläufig ein neues Bewusstsein von Führungsarbeit und sich verändernde Arbeitsprozesse einher. Bei   neuen Herausforderungen – folgt man Michael Wade, Professor an der Eliteuniversität IMD in Lausanne – sollten Führungskräfte anpassungsfähig sein, beispielsweise, wenn neue Technologien und Wettbewerber auftauchen, langfristige Ziele verfolgen trotz aktueller Unsicherheiten, bereit sein, sich für Neues zu öffnen, nach neuen Geschäftsmöglichkeiten, aber auch möglichen Bedrohungen Ausschau halten, schnell sein und Tempo höher bewerten als Perfektion und Manager sollten demütig (!) sein, denn die Zeiten des „Mister Allwissend“ seien vorbei.

Die Haltung von Führungskräften beeinflusst die Unternehmenskultur wesentlich und nach wie vor tragen sie die Verantwortung für Ziele, Strategien und Ergebnisse, müssen jedoch Autonomie zulassen und Kontrolle abgeben; sie sind sinnstiftend und motivierend unterwegs und haben die Aufgabe „Ermöglicher“ und „Mutgeber“ zu sein, so formulieren es jedenfalls Unternehmensberater.   Führungskräfte alter Prägung, die im Wesentlichen nur noch um Status und Machterhalt kämpfen, aber keine zukunftsweisenden Lösungsansätze, die für die aktuelle noch nie dagewesene Situation passen, entwickeln, haben ausgedient, was aber nicht heißt, dass es sie nicht mehr gibt.

In Krisenzeiten lässt sich allerdings auch nicht alles über Mitbestimmung regeln. Die in Corona-Zeiten aktivierten Krisenstäbe in Städten und Landkreisen bauen auf Hierarchie auf, haben klare Führungs- und Vertretungsregeln und folgen der Maxime Wichtigkeit vor Dringlichkeit. Die Prozessorganisation ist erprobt, die Abläufe sind vielfach geübt. Die Corona-Krise provoziert (und benötigt teilweise) genau diese Kommandostrukturen. Allerdings taugen in diesen ohnehin komplexen und volatilen Zeiten, in denen Ursache und Wirkungsbeziehungen unklar sind und Antworten eher durch reflexives Experimentieren gefunden werden müssen,  Stabsarbeit und hierarchische Führung  nicht als Modelle zur Bewältigung der Corona-Krise und schon gar nicht für die Zeit danach. Nötig sind Anpassungsfähigkeit in den Strategien, Prozessen und Strukturen und damit ein sich wappnen für alle Eventualitäten, so wie es dem Konzept der Agilität entspricht. Kein Wunder also, dass in der Corona-Krise agile Ansätze neuen Schub erfahren haben.

Agil arbeitende Organisationen sind bereit und in der Lage, schnell ihre Strukturen zu verändern, ihre Prozesse, Pläne und tradierte Geschäftsmodelle an eine agile Unternehmenskultur anzupassen. Hierarchien sind nicht so wichtig. Top down? Bottom up? Projektarbeit? Linienorganisation? Mal so, mal so. Oder auch ganz anders. Diverse Arbeitsformen können problemlos koexistieren. Agilität bedeutet umgehen mit Veränderungen, Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg, Transparenz und Fehlerkultur, ein hohes Maß an Selbstorganisation bei ausgeprägter Selbstdisziplin, eine gute Balance zwischen Stabilität und Flexibilität, eine haltgebende Führung mit Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeiten der Mitarbeiter*innen. Damit aktuell gelebte Agilität Bestand hat, besteht der Anspruch, stets den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen.

Je trainierter Unternehmen in der Umsetzung sind, je gewohnter es für Mitarbeiter*innen ist, innerhalb kurzer Zeit in einen anderen Arbeitsmodus zu wechseln, desto stabiler und sicherer werden Führungskräfte, Mitarbeiter*innen und Unternehmen bei zukünftigen Herausforderungen. Sie werden  auf diese Art und Weise  erfolgreich und wettbewerbsfähig agieren vergleichbar  einer Fußballmannschaft, die unterschiedliche Systeme spielen kann und in der Lage ist, schnell von einem System in ein anderes umzuschalten.

Agilität bietet eine geschmeidige Synthese von Anpassung und Selbstentfaltung, eigentlich zwei unvereinbare Denkfiguren. Der Einsatz agiler Konzepte kann – nach genauer Prüfung der Ausgangslage – in vielen Fällen ein geeigneter Weg sein, ist aber kein Allheilmittel. Denn nicht zu übersehen ist, dass ein entscheidender Motor stets die Angst ist, Kunden,  Kundinnen und Marktanteile zu verlieren und von agileren Wettbewerbern abgehängt zu werden. Insofern trägt der agile Ansatz auf der Seite der Mitarbeiter*innen immer  Tendenzen zur Entgrenzung und Selbstausbeutung in sich und auf Seite der Organisation den Verdacht,  der Einsatz sei nur dem Trend geschuldet und insofern bloßer Selbstzweck.

Einen anderen Weg gehen die Vertreter der Holokratie (von alt-griechisch holos = vollständig, ganz), eine vom US-Unternehmer Brian Robertson entwickelte Systematik, die zur Entscheidungsfindung auf Offenheit und Partizipation setzt: viel Freiraum für Mitarbeiter*innen, weniger Hierarchien, Selbstmanagement, dezentrale Entscheidungsfindung und Transparenz. In diesem Modell, dem ein Gerüst aus Kreisen zugrunde liegt, in denen sich Organisationsmitglieder aufgabenbezogen zusammenschließen, wobei sich anlassbezogen immer wieder neue Kreise bilden oder Kreise sich auch auflösen können, sind alle verpflichtet, sich über definierte Schnittstellen mit allen anderen Kreisen horizontal wie vertikal auszutauschen und ihre Aktivitäten zu koordinieren. So soll die kollektive Intelligenz in einem Unternehmen produktiv gemacht werden.  In der Praxis kann das dazu führen, dass zum Beispiel langjährige Führungskräfte in Projekten nur mitreden, aber nicht bestimmen, weil die junge Kollegin mit dem frischen Universitätsabschluss sich im konkreten Thema einfach besser auskennt und deshalb das Team moderiert und führt.

Die Einführung dieser Organisationsstruktur verspricht mehr Klarheit in den Arbeitsabläufen, vereinfachte und dezentralisierte Entscheidungen, Unterstützung der persönlichen Entwicklung der Mitarbeiter*innen und nicht zuletzt eine Steigerung der Kreativität im Unternehmen. Die Münchner Firma Valantic arbeitet mit dem holokratischen Ansatz und setzt dabei auf VOPA, was für Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität steht.  Ein passendes Akronym, ein schmückender Slogan, den sich derzeit offensichtlich etliche Dax-Konzerne zu eigen gemacht haben.

Der agile und der holokratische Ansatz zeigen, dass wir mit dem Kulturwandel, der sich spür- und beschreibbar in der Arbeitswelt vollzieht, zwangsläufig über Führungsarbeit und Organisationsstrukturen nachdenken müssen. Wie nun können wir uns neu orientieren, wenn die Herausforderungen der Gegenwart keine hilfreichen Antworten in bestehenden Strukturen und Denkrichtungen finden? Entscheidungen werden ja vorwiegend im Geist der Vergangenheit getroffen. Es braucht aber einen Zukunftsbegriff, der Erneuerung in der Gegenwart ermöglicht und sie nicht ins Morgen projiziert.

Otto Scharmers Theorie U „Von der Zukunft her führen“ bietet hierfür einen nützlichen theoretisch-konzeptionellen Rahmen. Die Theorie U ist ein Modell für die Gestaltung von Entwicklungsprozessen in Organisationen und eine Methode, um aus einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu führen. Unter der Annahme, dass die Zukunft sich nicht durch Fortschreiben oder Extrapolation der Vergangenheit gestalten lässt, sondern durch Wahrnehmung der in der Gegenwart im Entstehen befindlichen Zukunft, wird in diesem Ansatz die Aufmerksamkeit konsequent auf den Quellort der Zukunft gerichtet. Die Idee ist, einen Zugang zu den ungenutzten Potenzialen von Individuen und Organisationen zu finden sowie Spuren der Zukunft in der Gegenwart aufzugreifen und zu verwirklichen. Kern des Modells ist der Presencing-Ansatz. Presencing ist ein Kunstwort aus presence (der Zustand des Anwesendseins im gegenwärtigen Augenblick) und sensing (die Zukunftsmöglichkeiten spüren). Es bedeutet, dass man die höchste Zukunftsmöglichkeit erspürt und verwirklicht, dass man das, was entstehen will, gegenwärtigt und die Fähigkeit erwirbt, von dieser Präsenz einer im Entstehen begriffenen Zukunft aus zu handeln. Der Weg dahin führt durch das U. Dafür sind drei Kernkompetenzen (Öffnung des Denkens, Öffnung des Fühlens, Öffnung des Willens) sowie mehrere Handlungsschritte wesentlich, die die beteiligten Individuen und Teams sowie die beteiligten Organisationen und Systeme aufbauen oder verstärken müssen. „Dieser innere Perspektivwechsel von der Bekämpfung des Alten hin zu einem Erspüren und Gegenwärtigen der höchsten zukünftigen Möglichkeit bildet den Kern substantieller Führungsarbeit… Es ist der Umschwung von einem Egosystem-Bewusstsein, das auf das Eigenwohl konzentriert ist, zu einem Ökosystem-Bewusstsein, das auf das Wohl aller, auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist.“ (Scharmer/Käufer, Von der Zukunft her führen, S. 12f.)

Die Personalberatung Kienbaum fasst das Thema Arbeit und Zukunftsfähigkeit anders an. In ihrem kürzlich veröffentlichten „Manifest für die Arbeitswelt von morgen“ bringt die Beratungsfirma „New Work“ als Lösungsweg ein. Sie greift damit seismographisch einen Megatrend auf und verstärkt ihn. Der Begriff New Work geht auf den austro-amerikanischen Sozialphilosoph Frithjof Bergmann zurück, der seine Theorie aus seinen Erfahrungen mit der Automobilindustrie und deren Automatisierungsprozessen entwickelt hat. Im Zentrum der ursprünglichen New Work Idee stand vor allem die persönliche Freiheit von Arbeitnehmer*innen und Bergmanns Forderung                        „herauszufinden, was wir wirklich, wirklich wollen“, um die Zukunft entsprechend zu gestalten. Heute ist der Begriff deutlich weiter gefasst und ein Synonym für innovative Ansätze der Arbeitsgestaltung. Die zentralen Werte von New Work sind werteorientiertes Handeln, Selbstverwirklichung und Teilhabe an der Gemeinschaft. New Work ist zum Sammelbegriff für zukunftsweisende und sinnstiftende Arbeit geworden und bedeutet auch, dass Führungsstile nachhaltig verändert werden und dass Vertrauen die Währung für die Zusammenarbeit im Unternehmen ist.

Das Kienbaum-Manifest formuliert dazu vier zentrale Handlungsfelder: New Ways of Working, Transformation und Führung, Purpose und Diversity. Unter New Ways of Working werden Home-Office und flexibles, ortsunabhängiges Arbeiten gefasst, vor allem aber die Transformation der Arbeitswelt durch die ständig fortschreitende Digitalisierung. Über Nacht lassen sich tradierte Strukturen und festgefahrene Denkmuster jedoch kaum aufbrechen. Es gilt daher ein System zu schaffen, in dem sich alle Menschen entsprechend ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in der Arbeitswelt weiterentwickeln können . Für diese Transformation werden Glaubwürdigkeit, Transparenz, Klarheit und Anpassungsfähigkeit gebraucht. Die Transformation zur agilen und resilienten Organisation kann nur auf Basis von Vertrauen sowie gemeinsamen Werten und gegenseitiger Wertschätzung gelingen. Führung muss Stabilität und Zuversicht vermitteln, Leitplanken und Ziele setzen und dabei gleichzeitig mehr Eigenverantwortung zulassen und den Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter*innen erweitern. Zweifellos eine Gratwanderung in unsicheren Zeiten.

Bei Purpose geht es nicht darum, was ein Unternehmen den Märkten oder der Börse bieten kann, sondern der Gesellschaft und der Umwelt. Es geht um Sinn, Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung. Die Menschen wollen wissen, wie sich Unternehmen zu den Herausforderungen wie der Klimakrise, der Digitalisierung oder der Mobilität positionieren. Unternehmen müssen glaubhaft darlegen, wie sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und nach welchem moralischen Kompass Entscheidungen getroffen werden. Führungskräfte müssen diesen Purpose ihres Unternehmens vermitteln und vorleben. Ein spürbar gelebter Unternehmenspurpose unterstützt Veränderungsprozesse und gibt Zukunftsorientierung. Ohne Sinn und Nachhaltigkeit laufen Unternehmen Gefahr, ihre Zukunftsfähigkeit einzubüßen.

Zur Zukunftsfähigkeit gehört auch Diversity. Studien belegen, dass sich Vielfalt messbar auf den Unternehmenserfolg auswirkt. Gemischte Teams bringen bessere Leistungen als homogene Gruppen. Es lohnt sich also für Unternehmen in Vielfalt zu investieren.

Bei aller wirklichen oder auch erzeugten Begeisterung für New Work gibt es aber auch Kritikpunkte. Dazu gehört, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit schnell mal verwischen; ferner, dass durchaus die Gefahr besteht, Marktsituation und Kunden aus den Augen zu verlieren, so dass dann New Work ein Unternehmen nicht erfolgreicher macht. Gleichwohl haben Studien ergeben, dass Unternehmen, die sich nicht nur dem Gewinnstreben verschrieben haben, langfristig 14mal stabiler sind als andere. Mitarbeiter*innen seien sogar um bis zu 30 Prozent produktiver und mehr als die Hälfte der purpose-orientierten Unternehmen wachse in einem drei-Jahreszeitraum um mehr als zehn Prozent. Die Positionierung als moralisch einwandfreies Unternehmen wirkt nach innen, ist aber zugleich immer auch eine Botschaft an die Konsumenten und Konsumentinnen. Besonders jüngere Mitarbeiter*innen haben ein starkes Bedürfnis nach sinnstiftender Arbeit. Ohne Purpose haben es Unternehmen weitaus schwerer, die begehrten jungen Arbeitskräfte und kluge Köpfe für sich zu begeistern, zumal bei anhaltendem Fachkräftemangel. Nicht zuletzt finden viele (jüngere) Menschen es heute selbstverständlich, bewusst einzukaufen und ihren Konsum an fairen Waren und ökologischen Produkten zu orientieren.

Tatsächlich könnte die Corona Pandemie den Trend zum bewussten Konsum noch einmal verstärken. Schon bisher ließen sich zwei Drittel der Konsumenten und Konsumentinnen in ihrer Kaufentscheidung von den Werten und Aussagen der Mitarbeiter*innen des Unternehmens beeinflussen. Wenn in der Pandemie verstärkt der Fokus darauf fällt, was wirklich wichtig ist und welche Werte wirklich zählen, könnte die Frage nach dem Purpose für die Unternehmen eine nochmals gesteigerte wirtschaftliche Bedeutung erlangen. Eng damit verbunden ist die Frage des Vertrauens; besonders in Krisenzeiten ein Erfolgsfaktor für Unternehmen. Ein vertrauensvolles Zusammenspiel zwischen Unternehmen und ihren Anspruchsgruppen sichert Unternehmen Wirtschaftlichkeit auf Basis gesellschaftlicher Verantwortung. Nicht ohne Grund werden ganzseitige Anzeigen geschaltet, in denen deutsche TOP-Unternehmen, denen von der Bevölkerung sehr hohes Vertrauen entgegen gebracht wird, imagewirksam aufgelistet sind. Denn mit ihren Kaufentscheidungen sind Konsumenten und Konsumentinnen  in der Lage, nicht nur auf den Markt zu reagieren, sondern ihn mitzubestimmen; sie können ihr Konsumverhalten  daran orientieren, welche Anbieter gesellschaftliche Verantwortung zeigen und  verfügen damit über Marktmacht, die bisher allerdings eher selten politisch genutzt wurde.

Vertrauenskultur, Agilität und Holokratie verändern Strukturen und Arbeitsformen in Unternehmen und Organisationen;  finanzkapitalistische Logiken setzen sie nicht außer Kraft. Die Pandemie böte der Politik aber schon die Chance, die Naturvergessenheit ökonomischer Theorien sowie nicht nachhaltige Wirtschafts-, Produktions- und Lebensweisen auf den Prüfstand zu stellen und die zusammenhängende Corona-, Wirtschafts- und Klimakrise auch zusammenhängend zu bewältigen.  Denn unbestritten ist, dass unser wirtschaftlicher Erfolg auf Naturzerstörung beruht. Ebenso zum Allgemeinwissen gehört, dass ein Zusammenhang zwischen unserer kapitalistischen Art und Weise des Wirtschaftens und sozialer Ungleichheit, dem Klimawandel und der Vernichtung von Artenvielfalt besteht. Konjunkturprogramme mit Maßnahmen auf Kosten von Um-, Mit- und Nachwelt müssten daher eigentlich ein No-Go sein.  Der Haushalt der Bundesregierung für das Jahr 2021 vernachlässigt jedoch komplett das Umsteuern in zentralen Feldern wie Klimaschutz und Verteilungsgerechtigkeit sowie gezielte Investitionen in klimafreundliche Technologien und erneuerbare Energien. Von Green Deal keine Spur. Selbst im 750 Milliarden Wiederaufbaufonds der EU sind 30 Prozent der Mittel für grüne Projekte reserviert.  Schon die Staatshilfen an die TUI und die Lufthansa waren nicht an ökologisches Umsteuern gekoppelt. Die Frage, inwieweit nachhaltige Programme mit sozial-ökologischer Ausrichtung helfen, multiple Krisen zu entschärfen, wurde gar nicht erst diskutiert. Das Konjunkturprogramm verfolgt eine kurzfristige und rein quantitative Eindämmungsstrategie; es ist eindimensional und bleibt dem Silodenken verhaftet. Die aktuelle Bundesregierung zeigt, dass sie so gut wie keine Vorstellung von Zukunft hat. Am Mangel an Wissen über den Zustand unserer Gesellschaft kann es nicht liegen. Wohl aber an Mut und politischem Willen. Gleichwohl wäre eine staatliche Intervention in die ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen notwendig. Die Pandemie hat doch deutlich gemacht,  dass zumindest Gesundheit und Pflege, in Teilen außerhalb des Marktes zu platzieren sind.  Staat und Unternehmen werden künftig Partner in der Sorge um die kollektive Gesundheit sein müssen.

Eine Umkehr im Rahmen ökonomischer Rationalität gibt es ja bereits durch kollektives Handeln, etwa wenn Anleger eine marktgerechte Rendite mit einer positiven Wirkung für Klimaschutz und Nachhaltigkeit zusammenbringen oder Unternehmen Energie- und Gemeinwohlbilanzen aufstellen. Zunehmend fordern auch Consultingfirmen und Unternehmensberater eine Verantwortung ein, die nicht mehr allein dem Shareholder-Value-Denken folgt und die über die Befriedigung von Aktionärsinteressen hinausgeht. Unternehmen und Führungskräfte können sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung  demnach immer weniger entziehen, zumal wenn sie die Zukunftsfähigkeit ihrer Organisation im Blick haben. Sowohl Scharmers Ökosystem-Bewusstsein als auch Kienbaums Purpose, die beide auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind, können hier Führungskräften und Unternehmen wertvolle Hilfestellung geben.

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass Gemeinsinn im Eigenhinteresse liegt und dass wir angewiesen sind auf eine solidarische Gemeinschaft. Das Gemeinwohl und das öffentliche Interesse  müssen künftig wieder an erster Stelle der Politik stehen. Und die Unternehmen müssen zum Gemeinwohl beitragen. Auch finanziell. Wenn dies die Pandemie letztlich bewirkt hätte, hätte sie sogar einen positiven Effekt gehabt.

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.