Zigtausende über 80-jährige haben sich die Finger wund gewählt, um einen Impftermin zu bekommen. Es gab für sie kein Durchkommen in der völlig überlasteten Hotline. Für einige Landräte, Bürgermeister, Stadträte, Kirchenobere und Pflegeheimleitungen war es hingegen offenbar ein Leichtes, sich und teilweise ihre Angehörigen frühzeitig impfen zu lassen und sich über die Priorisierungsregeln hinwegzusetzen. Alten und kranken Menschen haben sie damit eine Impfdosis weggenommen.
Inzwischen geht die Zahl der Impfvordrängler in die Hunderte. Hier nur eine kleine Auswahl. Zu den Impfvordränglern gehören die Landräte von Wittenberg, Vorpommern-Rügen, Donau-Ries, des Saalekreises und von Peine, inklusive seines Stellvertreters und 20 Mitarbeitern des Corona-Krisenstabes, der Bürgermeister von Hennef, der Oberbürgermeister von Halle mit seinen Stadträten, ein ehemaliger Ministerpräsident von Thüringen und seine Frau, der Bischof von Augsburg, der Klinikleiter in Bad Wildungen, die Geschäftsführung der Uni-Klinik Gießen-Marburg, der Aufsichtsratsvorsitzende und die Altenheimleiterin des Alten- und Pflegezentrums St. Vitus in Seesen, die Geschäftsführung des Altenheimbetreibers Bethel im Norden, der Geschäftsführer des Kreisverbandes Wolfenbüttel des Deutschen Roten Kreuzes, die Vorstände im Mathias Spital im Landkreis Steinfurt…
In der Presse wurde das Handeln der Impfvordrängler als verantwortungslos, verwerflich, egoistisch, unsolidarisch, unmoralisch und unethisch gebrandmarkt, um nur einige Adjektive zu nennen, mit denen das Verhalten der Impfvordrängler bedacht wurde. In den sozialen Netzwerken war die Kritik häufig noch heftiger; besonders kirchliche Vertreter wurden moralisch regelrecht demontiert. In einigen Fällen, so in Peine, ermittelt die Staatsanwaltschaft. In Halle wurden die Diensträume des Oberbürgermeisters durchsucht. Der Vorwurf: Vorteilsnahme im Amt bzw. veruntreuende Unterschlagung. Der Klinikleiter in Bad Wildungen wurde suspendiert, der Geschäftsführer des DRK in Wolfenbüttel gerügt und der Aufsichtsratsvorsitzende des Alten- und Pflegezentrums St. Vitus trat von sich aus von sämtlichen Ämtern zurück. So groß wie die Bandbreite bei den Konsequenzen war auch die Palette der Rechtfertigungen; sie reicht von aufrichtigem, teilweise auch nur pflichtschuldigen Bedauern über „der Impfarzt trägt die Verantwortung“ bis zu „ich habe richtig gehandelt und würde alles wieder so machen“.
Von Kirchenleuten und Geschäftsführungen von Alten- und Pflegeheimen wird gern der Kontakt zu den Pflegebedürftigen und Altenheimbewohnern als Begründung für die vorzeitige Impfung vorgebracht, selbst wenn die Ehefrau oder die Assistentin der Geschäftsführung gleich mitgeimpft wurden. Landräte und Bürgermeister verweisen gern auf die besonders in diesen Coronazeiten notwendige Absicherung der Entscheidungsstrukturen, als ob es keine Vertretungsregelungen geben würde. Was für eine Hybris! Großbritannien ist auch nicht zusammengebrochen als Boris Johnson schwer erkrankt an Covid-19 im Krankenhaus lag. Solch dilettantische Erklärungsversuche – und der eines Landrates, er habe die Leute motivieren wollen, sich ebenfalls impfen zu lassen, gehört dazu, – verstärken noch die negative Außenwirkung.
Beliebtestes Rechtfertigungsargument ist aber wohl, dass es sich bei der Impfung um Restdosen handelte, die sonst hätten entsorgt werden müssen. Unterton: Das ist doch nicht zu verantworten und kann doch niemand wollen. Auf diese Weise kann man sich als Landrat oder Bürgermeister sogar noch als Retter inszenieren, von der eigenen Verantwortung ablenken und eine Nebelkerze werfen, die vorzugsweise die eigenen Parteianhänger bereitwillig aufnehmen, um so das Fehlverhalten ihrer Vorderen zu verharmlosen. Wenn allerdings 20 Mitglieder des Corona-Krisenstabes geimpft werden, ist dies eine zielgerichtete Aktion und kein Restdosen verimpfen. Welch ein Vertrauen kann man aber in einen Krisenstab haben, der Zweifel weckt, ob er Entscheidungsnotwendigkeiten in besonderen Gefahrenlagen überhaupt gewachsen ist, der sich zuerst bedient und offensichtlich nicht in der Lage ist, ein Verfahren mit übrig gebliebenen Dosen unter Einhaltung der Impfreihenfolge zu entwickeln? Und wie kann beispielsweise ein Landrat, der persönlich profitiert hat, noch Vorbild sein, wie noch glaubwürdig an die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger seines Landkreises appellieren, die sich mit erheblichen Lebenseinschränkungen arrangieren müssen? Und was sagt das über eine Gesellschaft aus, in der einige wenige, denen Bedürftige anvertraut sind und die dem Gemeinwohl verpflichtet sein sollten, sich zuerst selbst bedienen? Ein grundsätzlicher Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust gegenüber Politik , Kirchen und Wohlfahrtsverbänden ist die Folge, wenn wenige ihre Entscheidungsmacht missbrauchen und nach dem Prinzip „Jeder ist sich selbst der Nächste“ handeln. In einer Konkurrenz- und Wettbewerbsgesellschaft setzen sich dann ausschließlich die Starken und Durchsetzungsfähigen zu Lasten der Hilfebedürftigen durch. Diese Entsolidarisierung verstärkt das Systemmisstrauen und führt zu Spaltungen in der Gesellschaft.
Zum eigenen Vorteil haben auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Nüßlein und der CDU-Bundestagsabgeordnete Löbel agiert. Georg Nüßlein soll einem Maskenhersteller Zugang zu Bundesministerien verschafft und dafür via Liechtenstein und über seine Beratungsfirma 660.00,- Euro kassiert haben. Ebenfalls für die Vermittlung eines Maskengeschäfts soll Nikolas Löbel 250.000,- Euro eingestrichen haben. Der frühere bayrische Justizminister und CSU-Landtagsabgeordnete Alfred Sauter soll für seinen Parteifreund Nüßlein die Verträge für den Deal entworfen und selbst an dem Maskenkauf über dubiose Umwege mehr als eine Million verdient haben. Damit schlägt Sauter ein neues Kapitel in der Lobbyisten-Diskussion auf: die Vermengung von Parlamentsmandat und Geschäftsinteressen als Anwalt. Getoppt wird das noch von Peter Gauweiler, der als Bundestagsabgeordneter in der Zeit von 2008 bis 2015 als Kritiker der europäischen Integration und als mehrfacher Kläger gegen die Euro-Rettungspolitik Beraterhonorare in Höhe von mehr als 11 Millionen Euro von dem Milliardär August von Finck erhalten hat.
Die Selbstbereicherung von Abgeordneten wird publik, in einer Situation, in der Unternehmer und Arbeitnehmer um ihre wirtschaftliche Existenz kämpfen, viele Menschen sich in einer existenziellen Notlage befinden und die Politik sich als zunehmend unfähig erweist, die Coronakrise effektiv zu bewältigen. Der mediale Aufschrei war dann auch – nicht nur in der Unionsfraktion – unüberhörbar. Der CSU-Generalsekretär Markus Blume vermisste einen „moralischen Kompass“ und „politischen Anstand“ bei seinen Kollegen, der CDU-Vorsitzende Laschet sprach von „Raffke-Mentalität“ und Bundespräsident Steinmeier von einem „Gift für die Demokratie“.
Die Union holte zwar schnell Ehrenerklärungen ihrer 243 Abgeordneten ein, mit denen sie bestätigten, sich nicht an der Pandemie bereichert zu haben, aber der politische und moralische Tsunami war damit nicht aufzuhalten. Mit Mark Hauptmann und Tobias Zech gaben ein CDU- und ein CSU Bundestagsabgeordneter ihre Mandate zurück. Hauptmann hatte sich im „Südthüringen Kurier“, einer Werbepostille, die er herausgibt, Anzeigen für Tourismusaufenthalte in Aserbeidschan vom dortigen Regime finanzieren lassen. Darüber hinaus soll er bei Maskengeschäften etwa eine Million als Provision kassiert haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Bestechung und Bestechlichkeit. Zech hat über seine Beraterfirma ein fünfstelliges Honorar erhalten, gezahlt für die Beratung einer mazedonischen Partei, deren Vorsitzender der ehemalige Ministerpräsident Nikola Gruevski war, der 2012 wegen Korruption zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war, der er sich durch Flucht nach Ungarn entzog. Die CDU-Bundestagsabgeordneten Axel Fischer und Karin Strenz sollen ebenfalls Gelder aus Aserbeidschan für politische Gegenleistungen erhalten haben; sie gelten als korruptionsverdächtig.
Die ideologische Verflechtung mit der Wirtschaft holt die CDU/CSU mit diesen Fällen ein; zum einen, weil sie es in der Vergangenheit an klaren Abgrenzungsregelungen fehlen ließ, zum anderen, weil die alten Amigo-Geschichten wieder hochkommen. Durch die Spenden- und Schwarzgeldaffären, verbunden mit den Namen Kohl, Leisler-Kiep, Koch u.a. gilt die CDU als gebranntes Kind und die CSU hat mit der Amigo-Affäre, die zum Rücktritt des früheren bayrischen Ministerpräsidenten Max Streibl führte, ihr eigenes Päckchen zu tragen. Man erinnert sich in diesem Kontext auch an Philipp Amthor, den CDU-Bundestagsabgeordneten aus Mecklenburg-Vorpommern, der für eine amerikanische Computerfirma lobbyierte und sich dafür mit teuren Reisen und Aktienoptionen im Wert von 250.000,- Euro entlohnen ließ. Politisch blieb dies weitgehend folgenlos. Denn Amthor wurde inzwischen auf Platz 1 der Landesliste von Mecklenburg-Vorpommern für die Bundestagswahl 2021 gewählt.
In der aktuellen Krisensituation versucht die Union durch einen Verhaltenskodex für ihre Abgeordneten und mehr Transparenz bei den Nebentätigkeiten Vertrauen zurückzugewinnen. Die von der Unionsfraktion vorgeschlagene 100.000-Euro-Regel offenbart allerdings, wie weit entfernt die Volksvertreter vom Alltag derer leben, die sie im Parlament vertreten. Denn erst ab dieser Summe wollen CDU und CSU Nebenverdienste auf den Euro genau angeben. Eine Summe, die für die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger als Hauptverdienst unerreichbar ist. Der durchschnittliche Jahresbruttoverdienst lag 2020 bei etwa 58.000,- Euro. Von einem Verdienst von 100.000,- Euro können die meisten nur träumen und für die 660.000,- Euro des Abgeordneten Nüßlein müssten sie mehr als 11 Jahre arbeiten.
Die „Nebenverdienste“ von Nüßlein, Löbel u.a. lassen sich auch nicht als egoistisches und instinktloses Gebaren einzelner abtun, denn die Union hat mehr Transparenz bei Nebeneinkünften stets ausgebremst und strengere Lobbyismus-Regeln verhindert. Insofern erntet sie jetzt das Ergebnis ihres strukturellen Versagens. Notwendig ist jetzt, mehr Transparenz zu gewährleisten sowie ein Klärungsprozess, zu dem die Einführung eines Lobbyregisters, die Bildung eines Kodexes an rechtliche Regelungen mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten sowie die Hochstufung von Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit als Verbrechen gehören. Denn die Verquickung von Mandat und persönlichen Geschäftsinteressen hat nicht nur der Union schweren Schaden zugefügt. Volksvertreter, die sich zuvörderst den eigenen wirtschaftlichen Interessen , aber nicht dem Wohle des gesamten Volkes verpflichtet fühlen, befördern Politikverdrossenheit, bringen das gesamte Parlament in Verruf und unterminieren die parlamentarische Demokratie.
Nahe an einer Amigo-Affäre bewegt sich auch Gesundheitsminister Spahn, dessen Ministerium großzügig Aufträge ohne Ausschreibung vergeben hat, was in der Pandemie-Notlage durchaus zulässig war. Da die klassische Beschaffung nur schleppend anlief, nutzte Spahn ganz bewusst private Kontakte. So kam ein Maskendeal mit der Online-Apotheke DocMorris zustande, bei der ein ehemaliger Vorstand mit Spahn befreundet ist. Einen Logistikauftrag in Höhe von 100 Millionen Euro und eine Maskenbestellung mit einem Volumen von bis zu 1,5 Milliarden Euro erhielt das westfälische Familienunternehmen Fiege, das in Spahns Heimatregion seinen Sitz hat und dessen Inhaberfamilie in der CDU vernetzt ist. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Spahn dem Manager, von dem er sein Haus in Berlin erwarb, einen lukrativen Job als Chef eines Unternehmens, das für die Sicherheit aller Patientendaten zuständig ist, verschaffte. Wenn all dies auch nicht justiziabel ist, ein Geschmäckle hat es schon.
Die politische Glaubwürdigkeit nimmt Schaden, wenn sich politisch-ökonomische Interessen von Abgeordneten, Klientelpolitik und gesundheitspolitisches Handeln – die Beschaffung von Masken und Schnelltests – zu einem unguten Gemisch verquirlen, bei dem in diesem Fall Apotheken, kassenärztliche Vereinigungen und Ärzte profitieren. Die Masken mit einem Einkaufspreis von 60 -70 Cent rechnete der Bund zunächst mit 6 Euro, später mit 3,90 Euro mit den Apotheken ab. Einen Betrag von 492 Millionen Euro überwies der Bund einfach an den Apothekerverband, der es an die Apotheken gleichmäßig verteilte, unabhängig davon, wie viele Masken sie wirklich abgaben oder was sie dafür zahlten. Insgesamt kostet die Verteilung der Masken den Steuerzahler mehr als 2 Milliarden Euro, für die er hinterher zahlen muss.
Zu den Krisengewinnlern in der Pandemie gehören in erster Linie die Big-Tech-Konzerne Amazon, Google, Facebook und Twitter. Die seit langem diskutierte Digitalsteuer oder eine zeitlich befristete Lieferabgabe sind jedoch kein Thema in der Politik; eine Lastenverteilung wird gar nicht erst in Erwägung gezogen.
Während Einzelhandel, Kulturschaffende und Soloselbständige darben, wird weiterhin kräftig Klientelpolitik betrieben. Nutznießer sind hier z.B. die Brauereigaststätten, die nach anfänglicher Ablehnung nun auch die 75-prozentige Umsatzerstattung bekommen. TUI und Lufthansa wurden mit vielen Milliarden unterstützt und die Deutsche Bank hat das erste Mal seit sechs Jahren Gewinn gemacht, weil der Staat die komplette Haftung für KfW-Hilfskredite übernommen hat. Die Boni-Zahlungen für den Bankchef, die Vorstände sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden daraufhin kräftig erhöht. Ein mindestens ebenso unrühmliches Beispiel gibt Daimler ab. Der Autobauer hatte von staatlichen Zuschüssen zur Kurzarbeit, von der LKW-Kaufprämie und der kurzfristig erhöhten Förderung für E-Autos profitiert und dadurch ein überraschend gutes Geschäftsergebnis in 2020 erzielt. Das soll nun dazu dienen, die Dividende deutlich anzuheben und damit den Aktionären zugute kommen. „Moralisch verwerflich“ nennt die „Bürgerbewegung Finanzwende“ dieses Vorgehen.
Die Pandemiehilfen der großen Koalition befördern so die Umverteilung von arm nach reich und verhelfen der Kapitalseite zu enormen Gewinnen. Im Windschatten der Krise geschieht zudem eine massive Umverteilung über Preisentwicklungen. Denn die Vermögenswerte steigen und entwickeln eine eigene Preisdynamik. Geld- und Aktienkurse legen im Jahresvergleich kräftig zu und der Dax setzt zu immer neuen Höhenflügen an. Pandemiehilfen, boomende Aktienmärkte und Preisdynamiken sind Gründe für die weiter aufgehende Schere.
Bund und Länder haben 2020 315 Milliarden für Hilfen ausgegeben, ferner Garantien und Gewährleistungen für Hilfskredite in Höhe von 833 Milliarde Euro gegeben. 2021 und 2022 kommen absehbar weitere Kredite hinzu. Die große Koalition gibt das Geld mit vollen Händen aus, um, so ist der Eindruck, irgendwie durch die Pandemie zu kommen und begünstigt die, die ohnehin schon gut versorgt sind, der Maxime folgend was gut für die Wirtschaft ist, ist gut für das Land. So gibt es z.B. für in Not geratene Großunternehmen einen mit 500 Milliarden ausgestatteten Wirtschaftsstabilisierungsfonds.
Diese Art von Wirtschafts- und Finanzpolitik ist wenig ambitioniert, ohne jegliche Zukunftsvision, bloß noch verwaltend, lässt Akzente bei Digitalisierung, Klima, erneuerbaren Energien vermissen und hat das Umsteuern bei der Verteilungsgerechtigkeit überhaupt nicht im Blick. Es ist nur noch ein mehltaubeladenes Durchwursteln!
In der Krise kümmert sich der Staat um Industriekonzerne und Banken, nicht aber gleichermaßen um alle seine Bürgerinnen und Bürger; die Pandemie verstärkt die Ungleichheit. Denn in der Pandemie sehen sich Menschen mit niedrigem Einkommen, prekärer Beschäftigung und geringer Qualifikation in besonders großen Schwierigkeiten, zumal sie zumeist in beengten Wohnverhältnissen leben und aufgrund problematischer Arbeitsbedingungen oder weil sie in Berufen arbeiten, die besonderen Belastungen ausgesetzt sind, erhebliche gesundheitliche und soziale Risiken tragen. Die unteren Einkommensgruppen gehören in mehrfacher Hinsicht zu den großen Verlierern der Corona-Krise. Materiell dadurch, dass die realen Einkommen um 1,1 Prozent fielen, ferner durch Arbeitslosigkeit, den Wegfall vieler Minijobs und durch den Bezug von Kurzarbeitergeld – 6 Millionen Menschen werden so in Lohnarbeit gehalten. Von finanziellen Problemen und Einschränkungen im Lebensstandard betroffen sind ein Viertel der Alleinerziehenden und ein Fünftel der Selbständigen.
Das Virus plagt insbesondere die Schwachen in der Gesellschaft. Eine Studie aus Köln zeigt, in den deprivierten Vierteln, wo mehr Arbeitslose, mehr Wohngeldempfänger und mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu Hause sind, erkranken die Bürgerinnen und Bürger am häufigsten an Covid-19, während das Virus die Viertel, in denen die Wohlhabenden wohnen, weitestgehend verschont. Das Robert-Koch-Institut hat Daten darüber vorgelegt, in welchen Gebieten es in Deutschland sehr viele Infektionen und eine höhere Sterblichkeit gab. Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle lag die Covid-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 – 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung. Zu einem öffentlichen Aufschrei hat das nicht geführt, geschweige denn zu konkreten Maßnahmen. Dabei wären mehr und detailliertere Informationen auch zur sozioökonomischen Situation der Infizierten und zur Herkunft derjenigen, die auf den Intensivstationen liegen, notwendig, um daraus gesundheitspolitische Konsequenzen ziehen zu können.
Zur geringeren Infektionsrate bei den Wohlhabenden trägt sicherlich auch der häufigere und unkomplizierte Wechsel ins Homeoffice bei. Etwa 41 Prozent der Menschen mit hoher Schulbildung arbeiteten von zu Hause aus; unter denen mit niedriger Bildung waren es knapp 13 Prozent. Arbeit von zu Hause stellt sich so als Privileg der Besserverdienenden und der oberen Bildungsgruppen dar.
Weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt durch die Krise werden Langzeitarbeitslose. Durch wegfallende Schulessen, geschlossene Tafeln, steigende Lebenshaltungskosten, u.a. für Desinfektionsmittel und Masken, ist das Leben für Empfänger von Grundsicherungsleistungen spürbar teurer geworden. Für echte Teilhabe bleibt weniger Geld übrig. Die Forderung von Sozialverbänden, die Grundsicherung von derzeit 446 Euro für Alleinstehende auf mindestens 600 Euro anzuheben, scheiterte. Die große Koalition einigte sich statt dessen auf einen einmaligen Corona-Zuschuss von 150 Euro, der im Mai ausgezahlt werden soll.
Nicht nur die Kluft zwischen arm und reich wächst in Deutschland, sondern die Pandemie vergrößert auch die Ost-West-Lücke, was daran liegt, dass es im Osten einen höheren Anteil an kleinen Unternehmen und Dienstleistern als im Westen gibt. Die Pandemie schlägt auf diese Weise immer weitere Risse in die Gesellschaft, zeigt, wie ungerecht es in diesem Land zugeht und vergrößert das Risiko von sozialen Spaltungen.
Die Risse im Bildungsbereich werden ebenfalls tiefer. Denn die in Deutschland ohnehin stark ausgeprägte Bildungsungleichheit wird durch die Krise noch verschärft. Der Bildungserfolg hängt nach wie vor vom familiären Hintergrund ab. In Familien mit niedrigem Einkommen und aus bildungsfernen Milieus fehlt es häufig an der technischen Ausstattung mit Computer oder Laptop und die Eltern können im Homeschooling weniger gut unterstützen. Die Lernmotivation leidet und der Abstand zu den Kindern und Jugendlichen aus bildungsaffinen Elternhäusern wird größer. Die strukturellen Ungerechtigkeiten in der Bildung, die später nur mit individueller Förderung und viel Geld aufgebrochen werden können, tragen dazu bei, dass sich bestehende soziale Strukturen weiter verfestigen.
Mit Blick auf die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Pandemie besteht insofern reichlich Handlungsbedarf. Diesen zu erkennen, fällt nicht schwer, ihn aber angesichts des entstandenen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlustes des politischen Systems umzusetzen, schon. Bürgermeister, Landräte und Kirchenobere haben sich durch ihre Impfvordrängelei entsolidarisiert, Landtags- und Bundestagabgeordnete sich den Staat zur Beute gemacht. Beide Gruppen haben die Chancen, die in einer Krise für die Mächtigen liegen, für sich genutzt, dabei einer Ideologie des Eigennutzes folgend. Wenn das Schule macht und jeder nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist, führt dies zu Klientelpolitik und Gruppenbildungen entlang von Milieus und Identitäten , d.h. zu Spaltungen und Partikularismus.
Die Entsolidarisierung geschah in einer Situation, in der an den Gemeinsinn appelliert und von den Bürgerinnen und Bürgern Verzicht und Einschränkungen gefordert wurden, damit das Gesundheitssystem nicht kollabierte und die vulnerablen Gruppen geschützt wurden. Enttäuschung und Verdruss darüber potenzieren sich vor allem auch deshalb, weil weder Bundesregierung noch Landesregierungen die Pandemie in den Griff bekommen, die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin eine einzige Kakophonie ist, unübersehbar Konzept- und Strategielosigkeit herrschen, so dass das Bild eines Staates entsteht, der bürokratisch verkrustet, logistisch überfordert und moralisch ausgehöhlt ist. In einer Forsa-Umfrage sprechen 58 Prozent der Bevölkerung der Regierung die Kompetenz zur Krisenbewältigung ab. Das Missmanagement der Krise sowie die Führungs- und Vollzugsdefizite grenzen bereits an Staatsversagen. Bisher schlägt sich das nicht in einer Radikalisierung an den Rändern des politischen Systems nieder. Die Gefahr dafür ist aber nicht von der Hand zu weisen.
Unter diesen Umständen ist es schwer, eine Vision von einer Zukunft zu entwerfen, die es wert ist, dass Menschen sich für sie einsetzen. Anregungen für grundlegende Reformen finden sich in dem Buch „Neu denken“ der VdK-Präsidentin Verena Bentele. Sie erinnert daran, dass ein gut ausgebautes Bildungssystem und soziale Sicherungssysteme zu den Grundvoraussetzungen von Demokratien gehören. Ein funktionierender Sozialstaat, soziale Gerechtigkeit und das Solidaritätsprinzip sind ihrer Auffassung nach die beste Idee für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Ohne die Bereitschaft zur Solidarität kann eine Gesellschaft eine Krise nicht gemeinsam bewältigen. In Deutschland bedarf es dazu eines (Selbst)Reinigungs- und Erneuerungsprozesses: inhaltlich, personell, strukturell, gesellschaftlich. Wo finden sich die gesellschaftlichen Kräfte dafür?