Mit Waffengewalt wollte der Westen das Modell der demokratischen Gesellschaft und seine Wertvorstellungen an den Hindukusch exportieren. Die Intervention endete desaströs in einem riesigen Chaos und wohl ziemlich mit dem Gegenteil dessen, was die USA und die mit ihnen verbündeten Staaten mit ihrer Anti-Terror-Politik seit dem 11. September 2001 und ihrer vollmundig „Enduring Freedom“ genannten Operation erreichen wollten. Es war pure Selbstüberschätzung und imperiale Hybris anzunehmen, dass man andere Staaten nach westlichem Vorbild formen könne, ohne die bestehenden Macht- und Sozialstrukturen sowie Geschichte und Kultur eines Landes zu berücksichtigen. Werte mit Waffengewalt durchsetzen zu wollen, konnte nicht funktionieren und hat ja auch nicht funktioniert. Außerdem war es reine Selbsttäuschung ein Land mit einer durch und durch korrupten Elite mit militärischen Mitteln demokratisieren zu wollen.
Die Terrorbekämpfung des Westens führte zu massiven Menschenrechtsverletzungen. In Guantanamo und Abu Ghraib folterten die USA Gefangene und verrieten genau jene Werte, die sie angeblich verteidigten. Universale Werte sind aber nichts wert, wenn sie zur rhetorischen Strategie verkommen und nur im Bedarfsfall oder nach je eigenem Gusto angewandt werden. Bisher war der Führungsanspruch der USA, zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung, immer auch ein moralischer. Dieser ist verwirkt.
Die Menschen in Afghanistan sind die Leidtragenden der westlichen Militärmission. Diejenigen, die an die Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten geglaubt haben und nun im Stich gelassen wurden ebenso wie diejenigen, die den Westen als Ortskräfte oder auf andere Weise unterstützten. Die Schande, jene nicht gerettet zu haben, dauert an; insbesondere jene, die mit dem Westen, also auch mit den deutschen Soldatinnen und Soldaten gekämpft und sich auf sie bzw. auf uns verlassen haben. Zehntausende hängen noch in Afghanistan fest. Zerstörtes Vertrauen, mangelnde Verlässlichkeit und gebrochene Versprechen dürften nicht nur bei ihnen lange nachhallen. Der Schaden reicht tief hinein in die deutsche Gesellschaft. Es ist erbärmlich, wie lange in Berlin Verteidigungs-, Innen- und Außenministerium kleinteilige Debatten führen und geführt haben, wer jetzt überhaupt (noch) oder nach welcher Sicherheitsüberprüfung herausgeholt werden könnte. Humanitäre Verantwortung wird verweigert, während in Afghanistan die Ortskräfte um ihr Leben bangen. Welch ein beschämendes moralisches Versagen!
Stattdessen herrschen Abwehrreflexe vor: Bloß nicht zu viele Flüchtlinge aufnehmen. Man argumentiert, man müsse den Nachbarländern Afghanistans helfen, d.h. Geld geben, damit sie Flüchtlinge aufnehmen. Wer so handelt, handelt geschichtsvergessen. Denn die Taliban sind in den 90er Jahren genau in jenen Flüchtlingslagern, z.B. in Pakistan, groß geworden, in denen Berlin und Brüssel wieder viele Flüchtlinge unterbringen möchten. Durchdacht ist das alles nicht, aber der Umgang mit Flüchtlingen hat System, wie die Situation rund um das Mittelmeer zeigt.
Die EU betreibt dort eine menschenverachtende Politik und missachtet permanent die Genfer Flüchtlingskonvention, den Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts. Die Konvention definiert, wer die Fluchteigenschaft erfüllt, welchen Rechtsschutz Flüchtlinge gegenüber Staaten haben und welche Rechte ihnen im Aufnahmeland zustehen. 149 Staaten, die die Konvention bzw. das Protokoll unterzeichnet haben, verpflichten sich, das Anliegen der Flüchtlinge an der Grenze zu überprüfen und ein faires Verfahren durchzuführen.
Die Realität sieht anders aus. Griechische Grenzbeamte drängen Flüchtlinge an den Grenzen zur Türkei systematisch zurück; Pushbacks durch Kroatiens Grenzpolizei sind ebenso dokumentiert wie Zehntausende Pushbacks in Ungarn durch die Grenzschutzagentur Frontex. Polens Grenzschützer schieben 32 afghanische Flüchtlinge nach Belarus zurück, das sie auch nicht aufnehmen will, so dass sie ohne humanitäre Hilfe im Niemandsland zwischen Polen und Belarus verharren müssen. Zusätzlich ruft Polen wegen 32 Flüchtlingen den Ausnahmezustand aus! Die Grenzschutzagentur Frontex sorgt mit ihren teilweise brutalen Pushbacks dafür, dass Flüchtlinge möglichst gar nicht erst in die Nähe der EU-Grenzen kommen. Das Asylrecht wird damit faktisch außer Kraft gesetzt, jeglicher Humanitätsanspruch im Mittelmeer versenkt. Laut der Internationalen Organisation für Migration kamen von Mitte 2019 bis Ende 2020 mehr als 2.600 Menschen im Mittelmeer um; die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher liegen.
Pushbacks verstoßen gegen EU-Recht und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Der EUGH hat erst vor kurzem das Asylrecht gestärkt und den Abbau der Rechte der Flüchtlinge verhindert, indem er auf Anhörungen besteht. Die vorgesehene persönliche Anhörung zur Zulässigkeit des Antrags sei von grundlegender Bedeutung, so der Gerichtshof. Die von der Politik geduldeten und teilweise gedeckten Verstöße dagegen unterhöhlen massiv die Rechtsstaatlichkeit in Europa.
Ein Verstoß gegen die Konvention ist auch die Unterbringung der Flüchtlinge in Lagern, in denen menschenunwürdige Zustände herrschen, so wie auf Lesbos. Dort vegetieren Menschen ohne Perspektive jahrelang vor sich hin oder werden ohne rechtliche Grundlage festgesetzt. Nachdem das vielfach überbelegte Elendscamp Moria, Synonym für das Scheitern der Flüchtlingspolitik Europas, im September 2020 abbrannte, wurde mit Kara Tepe ein neues Flüchtlingslager errichtet. Dort müssen die Menschen mit unzureichenden Sanitäranlagen, unbeheizten Zelten, Überflutungen und in der Folge mit Schlamm und Pfützen zurecht kommen und dürfen das Lager nicht verlassen. Nicht viel anders sieht es in Bosnien aus. Nachdem das Flüchtlingslager Lipa abgebrannt war, weigerte sich eine Provinzbehörde leer stehende Gebäude für Geflüchtete zu öffnen. Für die Menschen gibt es in inakzeptablen Lagerräumen keinen Wasseranschluss, keine Heizung, keine humanitäre Hilfe, teilweise müssen sie im Winter im Freien ausharren. Statt humanitärer Unterstützung werden sie wegen illegaler Einreise kriminalisiert. Der EU ist offenbar jedes Mittel recht, um Migranten abzuschrecken und von Europa fern zu halten.
Die EU scheut dabei auch keine schmutzigen Geschäfte. Mit Erdogan wurde eine Vereinbarung geschlossen, die Migranten von Europa fernhalten soll. Dafür bekommt Erdogan Geld von der EU. Das kommt einem Ausverkauf humanitärer Werte und einem gewollten Outsourcing europäischer Asylpolitik ziemlich nahe. Gänzlich inakzeptabel ist jedoch die Abmachung mit Libyen. Die italienische Regierung hat mit Libyen einen Deal geschlossen, der zur Aufrüstung der dortigen Küstenwache geführt hat, mit dem Ziel, Flüchtlinge daran zu hindern, europäische Gewässer zu erreichen. Scheint die Flucht zunächst zu gelingen, dann sieht es nach Angaben von Rettungsorganisationen so aus, dass Flüchtlingsboote Libyens Küstenwache wieder zugetrieben werden. Etwa 7.000 Menschen haben die libyschen Küstenschützer in diesem Jahr aufgehalten. Viele kommen in Lager der Regierung oder von Milizen, in denen sie misshandelt, systematisch erpresst und sogar gefoltert werden, ein eklatanter Verstoß gegen Menschenrechte und gegen internationales Flüchtlingsrecht. Und das mit Duldung der EU.
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex dient ausschließlich der Abwehr, nicht der Rettung von Flüchtlingen. Alle Ansätze, Menschenleben zu retten oder ein Seenotrettungsprogramm aufzulegen, werden von Ländern der EU erschwert oder unterbunden. So wird die privat oder von NGOs organisierte Seenotrettung gezielt behindert. Schiffe von Rettungsorganisationen, wie die Alan Kurdi, werden in italienischen Häfen festgesetzt, die Sea Watch und die Sea Eye dürfen wochenlang in keinen Mittelmeerhafen einlaufen. Das kommt einer zigfach unterlassenen Hilfeleistung gleich.
Unterhalb der Ebene der Abschreckung wird die Zerrissenheit der EU sowie die fehlende Solidarität in der Flüchtlingspolitik sichtbar. Polen und Ungarn weigern sich grundsätzlich Flüchtlinge aufzunehmen. Anrainerstaaten, wie Italien, Griechenland und Spanien werden allein gelassen; sie tragen die Last bei Aufnahme und Unterbringung der Geflüchteten. Länder, wie Deutschland, müssen nach dem Dublin Abkommen keine Flüchtlinge aufnehmen, die schon anderswo in der EU registriert sind. Drittstaatenregelung und Dublin Abkommen müssten daher abgeschafft werden, um den Druck von den Anrainerstaaten zu nehmen. Eine Einigung der EU-Länder darüber kommt jedoch nicht zustande. Der EU gelingt es auch nicht, sichere und legale Fluchtwege einzurichten. Und 500 europäische Kommunen, die ihre Bereitschaft erklärt haben, Flüchtlinge aufzunehmen, werden von ihren Regierungen abgeblockt. Und dies, obwohl z.B. in Deutschland, bei einer vorgesehenen Obergrenze von 220.000 bisher in diesem Jahr erst 47.000 aufgenommen wurden. Die Migrations- und Asylpolitik der EU gleicht einem Trümmerhaufen; als Wertegemeinschaft befindet sich die EU in einer veritablen Krise. Zugespitzt und griffig auf den Punkt gebracht zeugt ein Graffiti in Moria davon: „welcome to Europe – human rights graveyard“; Europa – Friedhof der Menschenrechte. Es entsteht der Eindruck, dass Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention oder das Seevölkerrecht disponibel sind, wenn andere Dinge, wie Geld, Macht oder politische und wirtschaftliche Interessen überwiegen. Damit ist ein enormer Glaubwürdigkeitsverlust der EU verbunden. Ohne Rechtsstaatlichkeit in ganz Europa und ohne Grundrechte für alle sind die Versprechen der demokratischen Bürgergesellschaft aber nichts wert.
Europa, die westlichen Demokratien, sie befinden sich in einem Dilemma zwischen der wachsenden und sich integrierenden Weltwirtschaft und der Souveränität der Nationalstaaten. Dani Rodrik von der Harvard Universität spricht sogar von einem Trilemma von Demokratie, nationaler Souveränität und globaler wirtschaftlicher Integration. Die wirtschaftlichen Triebkräfte der Globalisierung. die sich zunehmend von den nationalen Prozessen und Kontrollen abkoppeln, untergraben den Nationalstaat und damit die nationale Souveränität. In der Folge erleidet die Demokratie einen Legitimationsverlust der Regierungen und den Aufstieg illoyaler oder halb loyaler Oppositionsgruppen, die das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen weiter untergraben. Vielfach ist dann das Mittel der Wahl in einer komplexer gewordenen Welt Abschottung nach außen, die Betonung des Nationalen sowie die Zunahme autoritärer Strukturen oder zumindest eine stärkere Reglementierung nach innen, was immer mit der Gefahr verbunden ist, dass politische Freiheiten ausgehöhlt oder gleich ganz geopfert werden. In unterschiedlichen Ausprägungen zeigt sich diese Entwicklung in Ländern wie Ungarn und Polen oder z.B. auch in Brasilien und in den USA unter Trump.
Auf Abschottung setzten Länder und Regierungen auch zur Abwehr der Pandemie; sie schlossen die Grenzen oder erschwerten die Grenzübertritte, nach innen setzten sie auf Kontrollen und Reglementierung. Bei der Impfstoffverteilung zerfällt die Welt in Länder, in denen die Immunisierung weit fortgeschritten ist, so in Europa und den USA , und in Länder, in denen sie weniger weit fortgeschritten ist. In Afrika, etwa, sind bisher nur zwei Prozent der Bevölkerung geimpft.
Den Flüchtlingsbewegungen begegnen Länder, wie die USA, Lettland, Litauen oder Kroatien mit einem Mauerbau, klares Zeichen der Abgrenzung. Das Eigene soll damit vor den Ansprüchen und Gefahren des Außen geschützt werden.
Beim Klimawandel werden Überflutungen und Waldbrände zumeist als regionale oder nationale Ereignisse abgehandelt. Die nationale Sichtweise dominiert auch hier. Wohlstand und Überleben sollen mit dem Fokus auf die jeweils eigene Nation gesichert werden. Ob Mauern aber dem Klimawandel und weiteren Flüchtlingsbewegungen Stand halten? Wäre der Preis dafür dann die zunehmende Militarisierung und die Verfestigung autoritärer Strukturen in den westlichen Demokratien?
Oder gelingt es die Globalisierung zu steuern? Dafür müssten die Regierungen in den westlichen Demokratien autoritäre Tendenzen stoppen, der sozialen Ungleichheit entgegenwirken, die soziale Mobilität fördern sowie ausreichend Partizipationsmöglichkeiten schaffen und einen angemessenen Mindestlebensstandard sicher stellen; sie müssten intelligente Puffer schaffen zwischen der offenen Welt der Wirtschaftsmärkte und den gefährdeten Bevölkerungsgruppen.
Aufgrund der weltweiten Verflechtungen kann globaler Schutz von allen und eines jeden Einzelnen so aber noch nicht gewährleistet werden. Denn: Kein Teil der Welt kann sich auf Dauer auf Kosten eines anderen Teils retten, kein Teil kann sich retten, ohne dass nicht alle anderen gerettet sind. Wäre diese Einsicht handlungsleitend bei Regierungen und jedem Einzelnen, hätten wir eine andere Pandemie-Politik, eine andere Asylpolitik und eine andere Klimapolitik.
Und andere Werte.