Kunst auf Rezept?!!

Picasso wusste: „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele.“ Bereits in der Antike wurde der Kunst eine helfende, heilende, läuternde und reinigende Kraft zugeschrieben. So soll der Heilgott Äskulap Geisteskranke durch Musik und Gesang geheilt haben. Und Aristoteles erwartet von Tragödien über die Erregung von „Jammern“ und „Schauder“ eine kathartische Wirkung. Als Katharsis bezeichnet er die Reinigung von diesen Leidenschaften und von ähnlichen Affekten und Gemütszuständen; er weist der Katharsis eine therapeutische Funktion zu, die die Seele reinigt.

Im Mittelalter lautete eine verbreitete Wendung: „Durch Schreiben getröstet werden.“ Diese Wendung dürfte sich im Wesentlichen auf Adelige, Geistliche und Mönche bezogen haben, denn gesellschaftliche Wirkmacht hatten im Mittelalter vor allem Bilder. Bilder standen im Kontext christlicher Frömmigkeitspraxis  und lieferten so die mittelalterliche Herrschertheologie und Tugendlehre gleich mit. Bildtafeln, in Form von Altar- oder Andachtsbildern, waren symbolisch hochwirksame Objekte. Sie waren in gemeinschaftsbildende Kommunikationshandlungen eingebunden und besaßen eine eigene Kraft; es herrschte die Vorstellung, dass im Bild ein Teil vom Wesen der dargestellten Person zugegen war. Vornehmlich wurden Personen und Szenen der christlichen Heilsgeschichte dargestellt; sie vermittelten die Botschaft, dass nur ein gottgefälliges Leben zum ewigen Seelenheil führt.

Die christliche Kirche kümmerte sich um die Seele, Krankheit sah sie als Werk von übernatürlichen Kräften, medizinische Behandlung und Hygiene spielten in der Wahrnehmung des Klerus kaum eine Rolle. Das Volk, die Erlösung bildhaft vor Augen,  erklärte sich Krankheiten mit dem Wirken von Dämonen und bösen Geistern. Ein Vertrauen in eine Medizin, die Krankheiten heilen konnte, gab es nicht.

Anstöße für eine veränderte Sichtweise kamen aus dem arabischen Raum, aus dem Sufismus und von den damals berühmten persischen Ärzten. Das kunstvolle Wort galt den Sufis als Heilmittel der Seele. Der persische Philosoph und Medizingelehrte Avicenna (980 – 1037), dessen Lehre seit ca. 1200 auch im Westen bekannt wurde, erkannte statt Dämonen, Umwelt und Ansteckung als Krankheitsursachen. Er erkannte die Wechselwirkung von Psyche und Körper, die wir heute als Psychosomatik bezeichnen. Während psychische Störungen als dämonische Besessenheit galten, erkannte er, dass seelisches Leid den Menschen auch körperlich erkranken ließ.

Schon bei diesem kurzen historischen Ausflug wird ein umfassender Medizinbegriff sichtbar: physische und psychische Gesundheit bedingen sich gegenseitig, Musik, Tanz, Bilder und Literatur können, wie die Praxis über die Jahrhunderte zeigt, als Heilmittel fungieren. Seit der Antike und dem Mittelalter hat es natürlich Ausdifferenzierungen und Umwälzungen in den Künsten gegeben. In der Literatur sind es nicht mehr nur Tragödien, sondern Gedichte, Erzählungen, Romane, Briefe, Tagebücher, denen in gewissen Kontexten Heilkraft zugeschrieben wird. Bei den Bildern erfolgte eine  wichtige Umwälzung in der Renaissance. Die Renaissance machte das Bild zum Kunstwerk mit der Folge der Musealisierung, d.h. Bilder wurden ihres ursprünglichen Orts- und Gebrauchszusammenhangs enthoben und gestatteten keinen unmittelbaren Kontakt, keine Berührung mehr, wie noch im Mittelalter. Die Fotografie machte das Bild dann zum scheinbar getreuen Abbild der Wirklichkeit. Computer und Smartphone, die eine universale Verfügbarkeit garantieren, stellen eine weitere Entmaterialisierung der Bilder dar, vergrößern andererseits deren Verwendungs- und Verbreitungsmöglichkeiten.

Nähert man sich dem Malen und Schreiben, den Bildern und der Literatur, von der Produktionsseite her, gibt es eine Menge an Beispielen für die Verarbeitung von Erlebtem im Kunstwerk, für die Schöpfung aus dem persönlichen und kollektiven Unbewussten und für die stabilisierende Funktion von Kunst. Hier nur einige Beispiele. Für Edvard Munch, von dem das berühmte Gemälde „Der Schrei“ stammt und der unter großen Ängsten litt, war sein seelischer Schmerz Antrieb, Motiv und Leiden zugleich. „Meine Leiden sind Teil meines Lebens und meiner Kunst“, soll er gesagt haben. Auch für Vincent van Gogh war seine Malerei eine Flucht aus seinen psychischen Qualen: „Nur vor der Staffelei beim Malen fühle ich ein wenig Leben.“ Für beide war das Malen auch ein therapeutischer Akt.

Bei Franz Kafka ist fast das ganze Werk geprägt von undurchschaubaren Beziehungen und Verwicklungen sowie von Problemen der Abhängigkeit und der psychischen Fixierung auf übermächtige Autoritäten. „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ schildern explizit die Vernichtung des Sohnes durch die Eltern. Kafka öffnet hier ein Fenster zu seiner Seele.  Bei Sylvia Plath war – folgt man Alice Miller – der Grund der Verzweiflung nicht das Leiden, sondern die Unmöglichkeit dieses Leiden jemandem mitzuteilen. Sie versicherte ihrer Mutter in Briefen immer wieder, wie gut es ihr gehe und verpackte ihr Leiden in Gedichte und Tagebücher. Diese innere Spaltung und Zerrissenheit konnte sie auf Dauer nicht aushalten. Ihr Suizid wird von Alice Miller gedeutet als die einzig mögliche Artikulation des wahren Selbst auf Kosten des Lebens. Edgar Selge erzählt in seinem autobiographisch grundierten Debütroman „Hast du uns endlich gefunden“ aus der Perspektive des 12-jährigen Edgar von einer Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren. Sein Roman handelt von strengen Eltern, Schlägen in der Kindheit, vom Verdrängen und Verzeihen, vom Überleben und Lavieren in einem autoritär geprägten Elternhaus. Zwischendrin reflektiert Selge Konflikte seiner Kindheit: „Ich will nicht zugeben von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben. Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.“ Edgar Selge schreibt, dass das Finden, Ausprobieren  und Ausfüllen unterschiedlicher Rollen in der Familie gegenüber den Eltern dazu geführt habe, dass er Schauspieler geworden sei. Schauspielerei und Schreiben also als Prävention psychischer Gefährdungen?

„Kunst ist Medizin für Körper und Seele“. Dieser Satz ist  längst anerkannt, denn Medizin und Kunst haben sich gegenseitig beeinflusst und gehen in der Praxis vielfache Verbindungen miteinander ein. Experten zufolge ist erwiesen, dass Tanztherapien Menschen mit  Parkinson helfen, ihre motorischen Fähigkeiten zu verbessern. Bei der Lungenkrankheit COPD, die mit Atemnot einhergeht, helfe regelmäßiges Singen, die Lungenkapazität zu erweitern. In der Rehabilitation arbeiten Patienten mit Ton, malen, schreiben, singen oder tanzen, um ihr physisches und psychisches Wohlbefinden zu verbessern. Zentrales Anliegen von Kunst-, Musik- und Tanztherapie sind das Erleben und der Ausdruck unbewusster oder unterdrückter Gefühle und Konflikte, die Stärkung von Selbstvertrauen, der Abbau innerer Spannungen und die Möglichkeit, sich und den Bezug zur Welt selbst zu betrachten. Kunsttherapie wird gezielt eingesetzt bei Depressionen, Traumafolgestörungen, Angststörungen oder anderen psychosomatischen Erkrankungen. Kunsttherapeuten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Sie begleiten fachlich, regen an, ermutigen, unterstützen und geben Impulse bei der Reflexion, denn Gegenstand des therapeutischen Ansatzes sind gleichermaßen der kreative Prozess, das Produkt der Gestaltung und das Gespräch darüber.

Anfügen in diesem Kontext lässt sich das therapeutische Schreiben. Schreibtherapie wird als therapeutisches Mittel in Kliniken eingesetzt, gleichwohl muss keine psychische Instabilität vorliegen, um Schreiben als Mittel der Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Selbstwirksamkeit zu nutzen, wie mehr als 2.000 Schreibwerkstätten in Deutschland belegen. Therapeutisches Schreiben eröffnet den Zugang zum eigenen Selbst, schafft Klarheit über eigene Bedürfnisse und Wünsche und ermöglicht ein Kennenlernen der eigenen Schattenseiten ebenso wie der eigenen Potenziale und Fähigkeiten. Schreibend und durch wiederholtes Lesen  oder durch Gespräche in der Gruppe lässt sich eine Beobachterposition einnehmen, aus der heraus Muster erkennbar sowie Reflexion und verändertes Verhalten möglich werden.

Während auf der Produktionsseite Kunsttherapien anerkannt sind und in Kliniken und Rehabilitationseinrichtungen Anwendung finden, gibt es auf der Rezeptionsseite nur wenige Studien und Projekte, die sich unter den Aspekten von Gesundheit und Wohlbefinden mit der Wirkung von Kunst auf den Betrachter bzw. Besucher beschäftigen. In Montreal, als ein Beispiel, wird die Idee, Museumsbesuche als besondere Therapieform anzubieten mit einem speziellen Programmangebot verfolgt. Seit November 2018 können Mediziner dort ihre Patienten mit Rezept in das Musée des beaux-arts schicken. Die Rezepte gewähren jeweils einer Person mit Begleitung und zwei Kindern kostenlosen Eintritt; dies, um den Patienten den Besuch in einer vertrauten Umgebung zu ermöglichen. Wem genau die Ärzte den Museumsbesuch empfehlen, liegt in ihrem Ermessen. Die Direktorin des Museums hält alle Arten von Symptomen für relevant, von chronischen Schmerzen, über Bluthochdruck, Diabetes, Depression bis zu Alzheimer. Der Museumsbesuch auf Rezept wird allerdings bisher nicht von den Krankenkassen als Therapieform anerkannt. Das Projekt wird von einem privaten Kunstliebhaber unterstützt.

In Brüssel findet derzeit ein dreimonatiges, wissenschaftlich begleitetes, Pilotprojekt statt, an dem sich ein Krankenhaus und fünf Museen beteiligen. Im Gegensatz zu dem eher offenen Adressatenkreis in Montreal richtet sich der kostenlose Besuch von Kunstausstellungen hier an stationäre und ambulante Stress-, Burnout- und Angstpatienten der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses. Die Patienten können allein oder in Begleitung von Freunden oder Familienmitgliedern kommen. Ein spezielles Museumsprogramm gibt es nicht, um die Besucher nicht als Kranke zu stigmatisieren. Die Stadt Brüssel möchte mit dem Projekt erreichen, dass die Gesundheitspolitik die Kultur stärker in ihr Handeln einbezieht. Dahinter steht die Überzeugung, dass Kultur einen positiven Effekt auf die physische und psychische Gesundheit hat.

Einen anderen Ansatz verfolgte 2017 ein Programm der Universität von New South Wales in Australien. Mediziner stellten Rezepte aus, mit denen ihre Patienten Kunstkurse besuchen konnten, ein Ansatz, der auf eigenes produktives Tun, nicht auf das Rezeptive,  setzt. Das Programm wurde ausgerichtet auf Personen im Alter von über 65 Jahren, die nicht nur mit einer, sondern mit einer Vielzahl an gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Zu diesen gehörte Gebrechlichkeit, abnehmende körperliche Funktionen, Ängste, Depressionen, schwere Verluste und soziale Isolation. Gruppen von sechs bis acht Teilnehmern arbeiteten zwei Stunden pro Woche über einen Zeitraum von zehn Wochen in einem Kunstbereich ihrer Wahl mit einem speziell geschulten Künstler. Die Daten von Teilnehmern des Programms wurden ausgewertet. Laut der die Studie begleitenden Professoren konnte eine signifikante gesundheitliche Verbesserung  festgestellt werden, ebenso wie eine statistisch signifikante Verbesserung in selbst wahrgenommener Kreativität und in der Häufigkeit von kreativen Aktivitäten. Zugleich halfen die in der Gruppe durchgeführten Kunstaktivitäten die soziale Isolation durch Begegnungen aufzubrechen.

Dass Kunstprogramme dem Gesundheitssystem Geld sparen können, erbrachte eine Studie in England. Zwischen 2009 und 2012 nahmen in Gloucestershire und Wiltshire Patienten mit Erkrankungen von chronischen Schmerzen bis Depression an mehrwöchigen Kunstkursen teil; sie schrieben Gedichte, malten oder arbeiteten mit Ton. Ein halbes Jahr später mussten 37 Prozent der Teilnehmer seltener ihren Hausarzt aufsuchen und die Krankenhausbehandlungen nahmen um 27 Prozent ab. Laut Studie konnte das Gesundheitssystem pro Patient 216 Pfund sparen.

Bereits 2007 machte das MoMA in New York Museumsführungen mit Demenzkranken international populär. In Deutschland lief mit etlichen Museen von 2012 bis 2015 ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt mit dem Ziel, Demenzkranken einen Zugang zur Kunst zu ermöglichen. Der Studienanteil im Frankfurter Städel, zum Beispiel, war auf Paare ausgelegt, einen Demenzpatienten und eine dazugehörige Betreuungsperson. Im Städel trafen sich im Schnitt sieben Demenzpatienten mit ihren Angehörigen zu einstündigen Führungen mit speziell dafür geschulten Kunstvermittlern. Im Anschluss an die jeweiligen Führungen wurde praktisch gearbeitet. Die Aufgaben waren so angelegt, dass die an Demenz erkrankte Person und ihre Begleitung zusammenarbeiten und sich austauschen mussten. Menschen mit Demenz und ihren durch die Pflege belasteten Angehörigen sollte so  ein Stück gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration ermöglicht werden. Die Studie zeigte, dass die Stimmung zwischen Demenzpatient und Angehörigem sich besserte, dass das Selbstbewusstsein der Patienten stieg, weil sie nicht ständig mit ihren Defiziten konfrontiert wurden und die Auseinandersetzung mit Kunst insgesamt zu mehr Lebensqualität führte.

Die soweit bekannten Projekte und Studien kommen in Bezug auf die Wirkung von Kunst auf das physische und psychische Wohlbefinden durchweg zu positiven Ergebnissen. Dennoch ist es bisher aus einer Reihe von Gründen nicht gelungen, „Kunst auf Rezept“ zu verstetigen: Die Projekte und Studien erstreckten sich über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren, fanden in mehreren Ländern statt, hatten unterschiedliche Adressatengruppen, arbeiteten mit unterschiedlichen Programmen und Ansätzen und wurden nicht zuletzt von unterschiedlichen Akteuren getragen.

Soll „Kunst auf Rezept“ nachhaltig etabliert werden, gibt es aus meiner Sicht zwei Wege. Der eine führt über die Krankenkassen. Und zwar dann, wenn die empirischen Belege so überzeugend sind,  dass sich Krankenkassen einer Kostenübernahme nicht entziehen können. Zumal in der stationären Rehabilitation das Angebot von Kunst-, Musik- und Tanztherapie besteht und von den Kassen finanziert wird. Der zweite Weg orientiert sich am Brüsseler Modellprojekt. Städte, wie Berlin, Frankfurt oder München, könnten sich die Brüsseler Erfahrungen zu eigen machen und Museen, Bibliotheken, Kliniken und Universitäten zusammenbringen; sie könnten die (überschaubaren) Kosten für „Kunst auf Rezept“ übernehmen. Die Anforderungen würden darin bestehen, den Ärzten einen konkreten Handlungsrahmen an die Hand zu geben, Kunstvermittler, Kunsttherapeuten, Bibliotherapeuten  in den Institutionen als Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen und die Qualität der Programme durch Evaluation zu gewährleisten. Gewinnen würden in einer solchen Konstellation die Städte, die Kunsthäuser und die Kranken.

Für eine nachhaltige Implementierung von „Kunst auf Rezept“ scheint es erforderlich, die vorhandenen Erfahrungen, Angebote und Programme systematisch zu unterfüttern. Dietrich von Engelhardt liefert dazu äußerst wertvolle Überlegungen auf die ich mich im Folgenden, teils wörtlich, beziehe. Für die Bibliotherapie, aber übertragbar auf alle anderen kunsttherapeutischen Richtungen, benennt er im Umgang mit Krankheit, Schmerz und Tod sechs Dimensionen von zentraler Bedeutung.

1.  Lesen in Gesundheit und Krankheit                                                                                                  Die Bedingungen des Krankseins spielen bei den möglichen Folgen der Lektüre für den Patienten eine wichtige Rolle. Im Zustand der Erkrankung wird die Aufmerksamkeit meist verstärkt auf den eigenen Körper und die persönliche Situation gelenkt. Probleme und Ansprüche der Umwelt, der Angehörigen und Freunde treten in den Hintergrund. Produktion und Rezeption können nicht grundsätzlich mit Aktivität und Passivität  gleichgesetzt werden. Auch Rezeption verlangt Aktivität. Produktion ebenfalls Passivität. Form und Inhalt des literarischen Textes können Gefühle und Gedanken hervorrufen, die dann wieder den Umgang des Kranken mit seiner Krankheit und die Beziehung zum Arzt beeinflussen. „Literatur heißt in der Bibliotherapie Ablenkung oder Hinlenkung, Abstraktion oder Konkretion, Zeit- oder Raumbezug, Körper- oder Sozialbeziehung, Ich- oder Weltorientierung, kann als Vorbild oder Abschreckung dienen, kann zur Zerstreuung oder Sinnfindung beitragen, im Zusammenhang mit dem eigenen Leben und der vorliegenden Krankheit stehen oder gerade von diesen Situationen wegführen, kann konkrete Ziele der Krankheitsbewältigung entwerfen oder metaphysische Deutungen von Krankheit, Schmerz und Leiden, Sterben und Tod nahebringen.“

2. Einfluss unterschiedlicher Krankheiten                                                                                             Die allgemeinen  Bedingungen des Krankseins werden durch die Bedingungen der besonderen Krankheitsart, etwa Rheuma, multiple Sklerose, Depression oder Demenz, spezifisch beeinflusst; sie prägen auf jeweils charakteristische Weise Körper-, Raum-, und Zeitbeziehung, soziale Beziehungen, Selbst- und Weltbeziehung des Kranken.        Bibliotherapie findet bislang vor allem bei neurotischen Störungen, bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen Anwendung. Patienten können über sie erfahren, dass an vergleichbaren Gefühlen und Gedanken auch andere Menschen gelitten und mit ihnen zu leben vermocht haben oder sogar von ihnen geheilt wurden. Wie in der Kunsttherapie mit Bildern können Kranke mit eigenen Werken ihre Empfindungen, Sorgen und Wünsche den Angehörigen und Ärzten oft leichter als im direkten Gespräch mitteilen.    Wenn psychische Aspekte eine Rolle spielen, können literarische Texte auch bei körperlich Kranken die Heilung fördern: Seelisches Gleichgewicht wirkt sich auf den Stoffwechsel aus. Literatur kann allerdings auch verwirren, zu Selbsttäuschung oder Flucht aus der Realität führen, kann neurotische Tendenzen verstärken. Um so wichtiger ist hier die Einbindung eines Bibliotherapeuten.

3. Abhängigkeit von der Therapieform                                                                                                Bibliotherapie findet vor allem in der Gruppentherapie Anwendung, im gemeinsamen Lesen, Spielen und Sprechen über literarische Texte. Leseverhalten und Art der Lektüre geben Aufschluss über Krisen, Phasen der Genesung, wiedergewonnenes Realitätsbewusstsein und wieder erwachtes Interesse an der Umwelt.

4. Persönlichkeit des Kranken                                                                                                                  Im Zentrum  der Bibliotherapie steht der Kranke, seine Persönlichkeit, seine soziale Herkunft, sein Alter, sein Geschlecht, seine Intelligenz und Bildung. Kranke dürfen durch die Lektüre nicht überfordert und von Gefühlen der Langeweile, des Scheiterns oder der Minderwertigkeit belastet werden. Für die Lektüre geeignet sind klassische Literatur  und Trivialliteratur, ebenso wie Sachbücher, Reisebeschreibungen, Biographien, Gedichte, Zitate Aphorismen. Schmerzen und die Angst vor dem weiteren Verlauf der Krankheit und ihren Folgen können nachvollziehbar den Wunsch nach Ablenkung wecken.

5. Vermittlung des literarischen Textes                                                                                                Wesentlich  für den Erfolg der Bibliotherapie  sind die Art der Vermittlung und Hinführung zu den Texten. Ausschlaggebend sind Begleitung in der Lektüre und Ansporn zum eigenen Lesen. Im empathisch-kommunikativen Kontakt mit dem Kranken müssen seine spezifischen Möglichkeiten und Bedürfnisse erkannt werden. Zugleich müssen Wohl und Willen des Kranken anerkannt werden. Der Kranke steht im Mittelpunkt: Es geht um seine Krankheit, seine Therapie, seine Gesundheit.

6. Berufsbild des Bibliotherapeuten                                                                                                    Kunsttherapie setzt  einen Kunsttherapeuten, Bibliotherapie einen Bibliotherapeuten voraus. Anforderungen an den Beruf sind literarische Kenntnisse bzw. Kenntnisse in Kunst, Malerei, Tanz, ferner medizinisches Wissen und empathisch-kommunikative Fähigkeiten. Die Tätigkeit umfasst vielfältige Bereiche, während gängige Studienformen auf Spezialisierung zielen. Prädestiniert für diese Tätigkeit sind Menschen, die gern mit Menschen an der Schnittstelle zwischen Kunst und Medizin arbeiten.

Für eine aufgeklärte Gesellschaft, die sich als human versteht, d.h. menschlich und für Menschen, die das Wohl der leidenden, kranken, sterbenden Menschen im Fokus hat, kann die Schlussfolgerung nur sein, die Heilkraft von Kultur, von Kunst und Literatur, in Ergänzung zu biomedizinischen Behandlungsmethoden nachhaltig einzusetzen. Kunsttherapie und Bibliotherapie können in so gut wie allen medizinischen Disziplinen Anwendung finden.

Ein erweiterter, ins Mehrdimensionale ausgreifender Medizinbegriff, der Kunst und Kultur als Heilmittel mitdenkt, geht in den Studiengang Medical Humanities ein. Medizin, verstanden als Sozial- und Verhaltenswissenschaft, die Kunst und Kultur mit einbezieht, macht die Tür für „Kunst auf Rezept“ noch einmal von einer anderen, der medizinischen Seite her auf.

„Kunst auf Rezept“ stellt die  bereits praxiserprobte, kulturelle Antwort auf Krankheit und Therapie dar und harrt trotzdem  noch einer nachhaltig-verbindlichen Umsetzung. Das ist gegenüber Kranken nicht wirklich zu begründen.

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