Die Covid Kids kommen. Corona hinterlässt Spuren bei Kindern und Jugendlichen.

Seit März 2020, also seit fast zwei Jahren, beherrscht die Pandemie unser Leben. Für die ganze Gesellschaft ist das eine neue Krisenerfahrung. Unsere Normalität ist vielfach aus den Fugen geraten, vertraute Strukturen haben Risse bekommen oder sind gänzlich am Wanken. Der öffentliche Fokus liegt dabei auf der Wirtschaft, dem Einzelhandel und der Gastronomie, auf Homeoffice und Kurzarbeitergeld sowie auf den unbelehrbaren Querdenkern, nicht aber auf Risikofamilien und schon gar nicht auf Kindern und Jugendlichen. Schulpolitik ist zu einem bloßen Anhängsel von Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik geworden. Hier, wie in anderen Bereichen auch, sind wir nicht vorausschauend unterwegs. Dabei sind doch Kinder und Jugendliche  unsere Zukunft; eine Zukunft, die wir stiefmütterlich behandeln und vernachlässigen.

Feststeht: Die Pandemie ist für Kinder und Jugendliche belastend. Jedes dritte Kind litt bereits ein Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten, so das Ergebnis der zweiten Befragung der Copsy-Studie (Corona und Psyche), die Forschende des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf durchgeführt haben. Vier von fünf der befragten Kinder fühlen sich durch die Corona Pandemie belastet, sieben von zehn geben eine geminderte Lebensqualität an. Der Mangel an sozialen Begegnungen, emotionaler Nähe und haltgebenden Bindungen macht Kinder krank. Keine Klassenfahrten, keine Laternenumzüge, keine Musikkonzerte, kein Kino , kaum Sport, keine Wettkämpfe, nur eingeschränkter Zugang zu Jugendzentren, kein Treffen mit Gleichaltrigen oder anderen Vertrauenspersonen, die ganze adoleszente Dynamik ist blockiert, wichtige Entwicklungsschritte können nicht stattfinden. Depressive Verstimmungen, traumatisierende Erfahrungen, Adipositas, exzessiver Medienkonsum, Schlaf- und Essstörungen sind  Folgen sozialer Isolation und gezwungenermaßen stark reduzierter Beziehungen. 416.000 Kinder und Jugendliche haben in 2020 die „Nummer gegen Kummer“ kontaktiert, 31 Prozent mehr als in 2019. Die Nachfrage nach Therapieplätzen ist massiv gestiegen und fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen macht sich Sorgen um die Zukunft. Kinder haben ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene und manche können sich nicht vorstellen, dass es wieder anders wird. Darin drückt sich ein Stück Perspektivlosigkeit aus.

In vielen Altersstufen sind dies entscheidende Jahre, die nachhaltig prägend wirken, etwa wenn Kinder  gleich zu Beginn ihres Sozialisationsprozesses in der Kita auf Erzieherinnen mit Masken treffen oder sechsjährige ihre Einschulung auf Distanz erleben und gleich mit  Wechsel- und Online-Unterricht starten. Auch Erst- und Zweitklässler leiden unter der Distanz; sie haben Probleme eine Beziehung zur Lehrkraft als Basis für Lernen und die damit verbundene eigene Persönlichkeitsentwicklung aufzubauen, sind emotional und sozial verunsichert. Die coronabedingt erschwerten Bedingungen setzen sich bei den Jugendlichen an den allgemeinbildenden Schulen bis zur Uni fort. Außerdem: Keine Berufsorientierung, keine Praktika, weniger Ausbildungsplätze. In 2020 ging die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge gegenüber dem Vorjahr um 9,2 Prozent zurück. Corona hinterlässt bei Kindern und Jugendlichen Spuren in der Psyche und im Sozialverhalten, deren Langzeitfolgen noch gar nicht absehbar sind.

Zugleich geht die soziale Schere weiter auseinander. Kinder, die in einem Haus mit Garten aufwachsen, ein eigenes Zimmer haben, mit Laptop, Drucker und Smartphone ausgestattet sind, Strukturen erlernt haben, elterliche Anregung und Förderung erhalten, vielleicht noch Nachhilfe bekommen, haben ganz andere Chancen durch die Pandemie zu kommen als Kinder aus kinderreichen Familien, Kinder aus Migrantenfamilien  und Kinder von Alleinerziehenden. Sie leben zumeist in beengten Wohnverhältnissen, berichten über vermehrten Streit in der Familie und über häusliche Gewalt und haben häufig schulische Probleme. Mindestens 25 Prozent der Kinder haben schulischen Nachholbedarf. Unstrittig ist, dass die Pandemie die Ungleichheit in den Bildungschancen je nach ökonomischen, kulturellen und zeitlichen Ressourcen der Familien oder ihrem Bezug zur deutschen Sprache deutlich verschärft hat. Wenn durch den Lockdown die Schule wegbricht, fehlt es zudem an Struktur und Regulierung, mit dem Ergebnis zunehmender psychischer Auffälligkeiten und Entwicklungsstörungen.

Viele Eltern – nicht nur die aus bildungsfernen Milieus – fühlen sich durch die anhaltende Pandemie belastet, haben vielleicht aufgrund von Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust finanzielle Sorgen oder kommen durch Homeschooling und die Doppelbelastung mit ihrer Arbeit an ihre Grenzen. Die dahinter liegenden strukturellen Probleme, wie soziale Benachteiligung, Bildungsungerechtigkeiten, verschleppte Digitalisierung, fehlende Schulsozialarbeiter, fehlende Schulpsychologen und Therapeuten, sind Probleme, die schon seit langem bekannt sind, bisher aber nicht entschieden angegangen wurden. Durch die Pandemie werden sie jetzt grell ausgeleuchtet. Ob daraus Strukturveränderungen erwachsen? Zweifel sind mehr als angebracht. Zumal wenn man auf den bis 2030 drohenden Lehrermangel schaut, der noch weitere bildungspolitische Ziele, wie Inklusion, Ganztagsausbau und mehr individuelle Förderung gefährdet. Deutschland geht hier mit Kindern und Jugendlichen, auch mit dem Rohstoff Bildung, äußerst nachlässig um.

Diese Nachlässigkeit dokumentiert sich auch darin, dass es die Länder nach zwei Jahren Pandemie nicht geschafft haben, die Schulen pandemiefest zu machen. Der Infektionsschutz ist nach wie vor löchrig und kurzsichtig, eine ausreichende Zahl an Masken, PCR-Tests, ganz zu schweigen von Luftfiltern, ist nicht vorhanden und Klassenräume stellen besonders im Winter mancherorts ungemütliche Plätze zum Arbeiten und Lernen dar, wenn bei geöffneten Fenstern Schüler und Schülerinnen sich mit Jacken, Decken und Tee wärmen müssen.

So gut wie gar nicht im Blick hat die Politik die halbe Million Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Förderschüler und -schülerinnen, die blind oder autistisch sind, die Lernschwierigkeiten oder eine Körperbehinderung haben, gehören zu der Gruppe der besonders vulnerablen Schüler und Schülerinnen. In der Pandemie müssen sie ohne Schulbegleiter auskommen. Für sie wären kleinere Gruppen in den Schulen erforderlich, das hieße mehr Räume, mehr Personal, mehr Geld.

Ebenso wie Förderschulen tauchen Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen in der öffentlichen Diskussion selten auf.  Entwicklungsverzögerungen oder psychische Auffälligkeiten sind kein Thema. Luftfilter im Übrigen auch nicht, es sei denn Eltern machen sich dafür stark.  Die Grundschulen sollen dann in vier Jahren ausgleichen, was die Kinder an ungleichen Startbedingungen und verpassten Entwicklungsschritten mitbringen. Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann.

Diskutiert wird die Frage, wie den Lernrückständen nach Schulschließungen und Distanzunterricht begegnet werden kann. Der verpasste  Lernstoff gilt als wichtig und soll nachgeholt werden. Das Ausmaß der pandemiebedingten Lernlücken ist jedoch nicht bekannt und müsste erst erfasst werden; er dürfte je nach Region und Schule ziemlich differieren. Zum Nachholbedarf gibt es ganz unterschiedliche Vorschläge, z. B diese: Schüler und Schülerinnen erhalten Nachhilfe bzw. zusätzlichen Unterricht an Samstagen bzw. in den Ferien, oder sie können freiwillig ein Schuljahr wiederholen oder vermeintlich überflüssiger Lernstoff wird weggelassen, damit verpasster Lernstoff in zentralen Fächern nachgeholt werden kann, oder das ganze Schuljahr wird von allen Schülerinnen und Schülern wiederholt.  Abgesehen davon, dass für die Umsetzung fast aller Vorschläge die notwendigen personellen und räumlichen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, setzen die Vorschläge überwiegend an den individuellen Defiziten der Schüler und Schülerinnen an, nehmen aber nicht die systemischen Problemlagen in den Blick. Zu denen gehören: kein Internetanschluss, kein Laptop, Eltern, die kein Deutsch sprechen, Schulen, die wegen hoher Inzidenzwerte häufiger geschlossen waren als andere, Lehrkräfte, die kein oder wenig Feedback geben oder den Distanzunterricht nicht gut strukturierten.

Bei der Frage, wie der verpasste Lernstoff aufzuholen ist, findet sich das System Schule denn auch in einer dilemmatischen Situation. Wenn man nichts macht, etwa weil die Ressourcen fehlen, werden die Lernrückstände zu groß. Das schulische System verschärft dann noch die ohnehin bestehende Ungleichheit. Zudem würde das Bildungsniveau sinken, was die nächsten PISA- und TIMSS-Studien umgehend bestätigen würden. Greift man die Vorschläge Nachhilfe und individuelle Klassenwiederholung auf, wird der Fokus auf die schlechten Schülerinnen und Schüler gelegt, denen man die Lernrückstände als individuelles Versagen zurechnet, dabei aber die systemischen Problemlagen außen vor lässt. Berücksichtigt man die systemischen Problemlagen, muss man über das System Schule hinausgreifen und Familien-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wohnpolitik mit einbeziehen und komplexere Lösungen andenken. Lässt man alle Schülerinnen und Schüler das Schuljahr wiederholen, bestraft man die, die sich den Lernstoff angeeignet haben.

Bildungslücken sind aber vielleicht sogar das geringere Problem, denn die sozialen und psychischen Folgen von zwei Jahren Social Distancing sind bei Kindern und Jugendlichen viel schwerer wettzumachen. Langfristige Auswirkungen stellen ein Risiko für die Betroffenen wie für die gesamte Gesellschaft dar. Gleichzeitig muss man aber auch betonen, dass ein Großteil der Kinder und Jugendlichen relativ gut durch die Corona Pandemie gekommen ist. Die junge Generation hat sich insgesamt pragmatisch sowie empathisch und solidarisch gegenüber der älteren  Generation verhalten, so dass in dieser Hinsicht eine Umkehr des Generationenverhältnisses stattgefunden hat. In Sorge um die Großeltern haben sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückgestellt, während die Älteren  nachlässig agiert haben und dem Wohl der Kinder nicht die Priorität eingeräumt haben, wie sie etwa die UN-Kinderrechtskonvention verlangt. Die Versäumnisse der Vergangenheit und  Gegenwart belasten jetzt die Zukunft der Jüngeren, nicht zuletzt, weil Legislative und Exekutive bei der vorausschauenden Kraft der Prävention versagt haben. Oder mit einer Gedichtzeile von Erich Fried: „Die Zukunft liegt nicht darin, dass man an sie glaubt oder nicht an sie glaubt, sondern darin, dass man sie vorbereitet.“

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