Im Sommer 2020, nach ein paar Monaten Corona-Pandemie, waren, laut Umfrage der Bertelsmann Stiftung, noch 61 Prozent der Befragten mit der Demokratie zufrieden. Im Februar 2022 nur noch 42 Prozent und ganze 18 Prozent hatten zu diesem Zeitpunkt noch Vertrauen in die Bundesregierung. Diese Ergebnisse der Umfrage sind besorgniserregend und können durchaus als Indikator dafür gelten, dass durch die multiplen, miteinander verwobenen Krisen die Demokratie fragiler geworden ist.
Sehr wohl streiten lässt sich über die Ursache dieser Misere. Ist die Globalisierung schuld, die dem Nationalstaat die Selbstbestimmung raubt? Scheitern die Demokratien des Westens in und an der Integration von Migranten? Lässt sich die politische Willensbildung nicht mehr über das herkömmliche Parteiensystem organisieren? Liegt es am Repräsentationsdefizit, daran, dass Abgeordnete nicht mehr die gesellschaftliche Heterogenität spiegeln und die vielfältige Gesellschaft in den Machtebenen kaum noch stattfindet? Oder liegt es an der Herrschaft der Sachzwänge, einem technokratischen Politikmodell, in dem die sogenannten Experten vorgeben, wie zu handeln ist? Haben die politischen und wirtschaftlichen Eliten das Vertrauen verspielt – und damit ihre Legitimation -, wenn sich große Teile der Bevölkerung in den Versprechungen von Wohlstand, Bildung, Gesundheit nicht mehr wiederfinden und die Idee des Fortschritts nicht mehr trägt? Oder ist es die zunehmende soziale Ungleichheit, die Angst vor Status- und Wohlstandsverlust, die die Demokratie gefährdet? Überall hier zeigen sich Risse und Brüche in der Gesellschaft. Oskar Negt konstatiert in diesem Zusammenhang eine „Erosionskrise“, der unbedingt entgegen zu wirken ist. Und für Nancy Fraser, die an der New Yorker New School for Social Research Politikwissenschaften und Philosophie lehrt, ist der gemeinsame Ursprung der Krisen ohnehin klar: der finanzgetriebene Kapitalismus neoliberaler Prägung. Das Gemeinwohl wird nicht mehr von allen als hohes Gut betrachtet, sondern das Streben nach Wachstum und Geld hat im Westen alle anderen Ideale überlagert.
Tiefe Unzufriedenheit mit der Politik der herrschenden Eliten, vor allem in der kleinstädtischen traditionellen Mittelklasse und in unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen, hat zu einer politischen Kräfteverschiebung und zu Erfolgen der Populisten in den westlichen Demokratien geführt. Man denke an den Aufstieg der rechten Populisten in Europa und den USA , an die starken Ergebnisse der Rechts- und Linkspopulisten in Frankreich, auch an den Aufstieg der Nationalkonservativen in Polen und Ungarn. Überall dort lässt sich beobachten, wie rechtes Gedankengut in das Bürgertum einsickert und Anerkennungsdefizite zu Abwertungen, Rückzügen, aber auch zu ganz unterschiedlichen Protest- und Widerstandsformen führen.
Die Vorstellung, dass der gesellschaftliche Wandel einer zum Besseren sei, überzeugt in nicht zu unterschätzenden Teilen der Bevölkerung nicht mehr. Es gibt eine verfestigte Aversion gegen Beschleunigung und Wandel. An die Stelle des Fortschrittsglaubens tritt die politisch durchaus gefährliche Sehnsucht nach Einfachheit und Eindeutigkeit und eine völkische und nationalistische Sehnsucht nach Gemeinschaft. Es ist der Nährboden auf dem Parallelwelten entstehen, der Nährboden für Elitenhass, Systemverachtung und Verweigerung des demokratischen Konsenses. Autoritärer Populismus ist gepaart mit Fremdenfeindlichkeit und nationalistischer Volksrhetorik; alles Fremde wird zu Symbolen des Kontrollverlustes erklärt.
Um den Schein der Homogenität des Volkes zu erzeugen, verbreiten und nutzen Populisten Angst, mit der sie an den realen Erfahrungen sozialer Unsicherheit vieler Menschen anknüpfen. Rechtspopulisten konstruieren als Gegenbild eine „heroische Vergangenheit“, zu der man zurückkehren solle, um das Land „great again“ zu machen. Schutz versprechen sie durch Grenzen, seien es Mauern oder Einfuhrzölle. Mitglieder anderer Religionen oder Ethnien gefährden den Zusammenhalt und gehören daher nicht zur Gemeinschaft. Besonders bei jenen, die sich wirtschaftlich abgehängt und von den Parteien verraten fühlten, fiel während und nach der großen Flüchtlingsaufnahme 2015 und 2016 die Xenophobie auf fruchtbaren Boden. Populisten nutzten dies, um die Bevölkerung zu spalten und die Einheit des vermeintlichen Volkswillens durch Ausschluss zu erzeugen. Hier die wahren Patrioten, dort die kosmopolitischen Eliten und Migranten. Fehlgeleitete nationalistische Machtphantasien mit dem Anspruch „wieder Herr im Haus zu sein“, befördern diese pathologische Form der Sündenbocksuche.
Von der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus und der Minderheitenverachtung ist es manchmal nur ein Schritt zur weiteren Radikalisierung. So sieht der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum die größte Gefahr für die demokratische Ordnung im Rechtsextremismus. Seit den 90ern zieht sich eine Spur der Gewalt mit mehr als 100 Todesopfern durch Deutschland. Dafür stehen Ortsnamen wie Mölln, Solingen, Halle und Hanau, dafür steht die Mordserie der NSU. Jahrelang wurde vermieden, die rechtsradikale Ideologie als echte Gefahr im und aus dem Kern der Demokratie wahrzunehmen. Die Morde wurden noch als Morde von Einzeltätern bagatellisiert als schon längst Muster und Kontinuitäten rechter Einschüchterung und rechten Terrors erkennbar waren; wohingegen Rechtsextremisten sich schon seit langem in Traditionslinien sehen und einzelne Täter sich ausdrücklich aufeinander und auf ihre Taten beziehen ebenso wie auf ihr ästhetischen Codes und ihre Ideologie.
Das Weichzeichnen autoritärer Bewegungen und faschistischer Demagogie ist mitverantwortlich für rassistische Gewalt. Lügen, falsche Tatsachenbehauptungen und menschenverachtende Positionen wurden als Meinungen verklärt, so etwa in Amerika die Lüge von der „gestohlenen Wahl“ oder in Deutschland die Lüge vom „Bevölkerungsaustausch“, nachdem Merkel 2015 ja die Grenzen geöffnet habe. Eine politische Öffentlichkeit, die sich scheut, Ressentiments und Lügen als solche zu benennen, verzichtet darauf, auf Fakten zu bestehen, Respekt einzufordern und auf Grund- und Menschenrechte zu verweisen.
Nicht zuletzt durch das Internet und die sozialen Medien verflacht der politische Diskurs. Google und Facebook haben kein Interesse zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, geschweige denn Grauzonen auszuleuchten. Tatsachenbehauptungen und Meinungen, Glauben und Wissen verschwimmen ineinander; alternative Fakten werden so gesellschaftsfähig. Wut und Hass können im Internet weitestgehend folgenlos ausagiert werden; es wird als Instrument genutzt, um beispielsweise Börsenkurse, Wahlen oder auch ganze Gesellschaften zu manipulieren. Eine demokratische Gesellschaft steht in der Gefahr, destabilisiert zu werden, wenn der gemeinsame Bezug zur Wirklichkeit auf diese Weise systematisch unterminiert wird.
Während der Corona Pandemie musste sich die Gesellschaft mit demokratiefeindlichen Tendenzen anderer Art auseinandersetzen. Coronaleugner und Impfgegner sahen sich in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt und sprachen von einer Coronadiktatur, die nach Gutdünken Grundrechte einschränke; sie nahmen dies als Legitimation, um im Sinne eines Notwehrrechts auch Gewalt anwenden zu dürfen. Das Volk wurde als entmündigt und unterdrückt stilisiert und gegen die Regierung in Stellung gebracht. Geflissentlich übersehen wurde dabei, dass eine Demokratie anders als ein autoritärer Staat auf eine Pandemie reagiert, nämlich im Modus öffentlicher Rechtfertigung, zudem die Einschränkungen demokratisch legitimiert. Aber ähnlich wie die rechten Populisten geht es den Querdenkern nicht um reale Ungerechtigkeiten oder eine politische Lösung, sondern sie wollen Misstrauen schüren, spalten und Widerstand gegen das System organisieren. Grundiert wird das Ganze durch Verschwörungsideologien, einem Amalgam aus Wissenschaftsfeindlichkeit und autoritärem Populismus, in denen Flüchtlinge, Eliten und die Medien als Feindbilder herhalten müssen. Es ist davon auszugehen, dass eine radikalisierte Leugnerbewegung fortbestehen wird, auch wenn freiheitseinschränkende Maßnahmen längst eingeschränkt sind.
Pandemiezeiten sind auch Zeiten wachsender Ungleichheit, denn Corona verstärkt den sozialen Polarisierungseffekt. Die Nothilfeorganisation Oxfam berichtet, dass die Zahl der Milliardäre in zwei Coronajahren weltweit um 573 auf 2668 gestiegen ist und deren addiertes Vermögen um 42 Prozent zugenommen habe. Allein in der Pharmaindustrie gibt es 40 neue Milliardäre. Wie sich die Verhältnisse auseinander entwickeln, zeigt der Zulauf zu den Tafeln, zu denen inzwischen zwei Millionen Menschen in Deutschland gehen und zeigen 13,4 Millionen Menschen, die laut Paritätischem Wohlfahrtsverband als arm gelten, d.h. über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Die sozioökonomische Polarisierungsdynamik der Pandemie führt zu Gewinnern, wie etwa den Versand- und Lieferdiensten, Baumärkten, Pharmaunternehmen und Apotheken und zu Verlierern, zu denen z.B. Gastronomiebetriebe, Soloselbständige, Kulturschaffende und Langzeitarbeitslose gehören. Die Spaltung in Arm und Reich manifestiert sich im Stadtbild von Metropolregionen ebenso wie in dem von Kleinstädten, hier die Villenvierteil, dort die abgehängten Quartiere. Überflüssig zu betonen, dass sich da nicht nur die Geldbeutel, sondern auch die Infektionsrisiken der Bevölkerung gravierend unterscheiden.
Die wachsende sozioökonomische Ungleichheit fördert Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration und der politischen Desorientierung. Rechtspopulisten werden die Verteilungsschieflage nutzen, indem sie sie als Ergebnis der Machenschaften einer korrupten Elite und einer Welle der Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme deuten. Weiter angeheizt wird die Polarisierung durch den Krieg, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat und der in der Folge zu stark steigenden Energiekosten, steigenden Lebensmittelpreisen und einer anhaltend hohen Inflation führt und dadurch die ungerechte Einkommensverteilung noch ungerechter macht. Wenn Millionen Haushalte nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit hinzukommen, dann entstehen Proteste, aus denen die Populisten versuchen werden Kapital zu schlagen. Möglicherweise entstehen radikale neue politische Gruppen, möglichweise entwickelt sich auch eine aus Ungleichheit und Missachtung gespeiste Radikalität.
Wechselseitige Gefährdungen, hervorgerufen durch rechte Bedrohungsallianzen sowie durch die Folgen von Corona, sozialer Ungleichheit und Inflation können durchaus toxische gesellschaftliche Szenarien ergeben und zu sozialen Spaltungen und politischer Zerrissenheit führen; sie liefern Mobilisierungsthemen für Populisten jeglicher Coleur. Wie sich die Auswirkungen von sozialer Ungleichheit, Anerkennungsdefiziten und Kontrollverlusten gesellschaftlich manifestieren und sich von den linken und rechten Rändern Richtung Mitte der Gesellschaft bewegen, ist derzeit gut in Frankreich zu beobachten. Und Trump kann als ein Beispiel dafür dienen, dass eine Demokratie hinter einer demokratischen Fassade auch ohne Putsch vor die Hunde gehen kann.
Gemeinsam scheint nicht zu unterschätzenden Teilen der Bevölkerung westlicher Demokratien zu sein, dass sie den Eindruck haben, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu verlieren, dass sie Strukturen gegenüber stehen, die sie nur noch hinnehmen können. Das Bewußtwerden der eigenen Machtlosigkeit macht anfällig für Verschwörungsideologien. Es haben die Zulauf, die versprechen, die Kontrolle in der Gesellschaft wiederherzustellen. Dies soll über autoritäre Ordnungspolitik, Regression sowie durch Abgrenzungshandeln nach Innen und nach Außen geschehen und wendet sich letztlich gegen das System, gegen die Demokratie.
Rainer Forst konstatiert in diesem Kontext – mit einem ökonomistisch geprägten Ansatz – eine Strukturkrise der Demokratie. Kern dieser Krise ist, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse globaler Natur sind, der internationale Finanzmarkt und die Art, wie transnationale Konzerne operieren, national nicht mehr zu kontrollieren ist. Die Strukturkrise zieht eine Rechtfertigungskrise in der Demokratie nach sich: Wir haben nicht die Mittel und es fehlt uns eine normative Ordnung für eine wirksame Politik, die die ökonomische Macht kontrolliert und sie in eine demokratische Rechtfertigungskultur einbindet. Migration, Inflation und Klimawandel können aber nur durch transnationale Politik erfolgversprechend und grundsätzlich angegangen werden. Den Regierungen bleibt derzeit nur, die negativen Folgen ökonomischer Globalisierung abzufedern. Bei den Wegen, die der Westen dabei beschreitet, verleugnet er ein um das andere Mal demokratische Werte; er läuft unter den eigenen moralischen und ethischen Wertmaßstäben drunter durch und untergräbt so die eigene Glaubwürdigkeit.
Gleichwohl ist das Konzept des Westens – eine Chiffre für Demokratie, Machtkontrolle, Rechtsstaat, Menschenrechte, Liberalismus, freiheitlich-kooperatives Zusammenleben, Toleranz und Pluralismus – autoritären und diktatorischen Systemen vorzuziehen, jedenfalls wenn man einem Menschenbild anhängt, das auf die Entfaltung der Persönlichkeit im Lichte universeller Freiheits- und Menschenrechte setzt. Doch Konzepte von Liberalismus und Demokratie allein reichen nicht, wenn die politische Praxis vielfach eine andere ist. Auch kann nur ein sozialer Westen seinen Zusammenhalt und seine Attraktivität bewahren. Fragen des Zusammenhalts sind immer auch Fragen der gerechten Verteilung von Macht und Privilegien. Und hier gibt es durchaus nationale Spielräume für Interventionen. Der Westen verfügt über die Instrumente – Offenheit, Selbstreflexion, Selbstkritik – um neue nationale wie auch transnationale Lösungen zu finden. Oder ist dies nur der westlich geprägte, zumal optimistische, Blick auf die Welt?
Der Kampf zwischen Liberalismus und Autoritarismus, freiheitlichen und diktatorischen Systemen wird überlagert durch den Klimawandel. Es geht um nicht weniger als darum, den Planet Erde bewohnbar zu erhalten, es geht um den Selbsterhalt.
Kann es im Zusammenhang mit dem Klimawandel, sei es aus der Konkurrenz, sei es aus dem Miteinander der Systeme. eine neue Ordnung und so etwas wie transnationalen Gemeinsinn geben?